Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
doch nicht gelogen? War seine Liebe echt? Wäre er tatsächlich bei ihr geblieben? Es schmerzte, darüber nachzudenken, denn derlei Gedanken waren sinnlos. Marie wusste, weshalb Konrad gesucht wurde, er hatte es ihr noch am Abend seines Verschwindens gesagt. Sie hatten ihn also gefunden, mit sich genommen und…
Sie schüttelte den Kopf, um das Bild zu vertreiben, welches sich ihr immer und immer dann aufzwang, wenn sie an das Schicksal des Vaters ihres Kindes dachte. Wie gern hätte sie nun, da sie die Höhle gefunden hatten, an die goldene Zukunft gedacht, die ihr und ihrem Kind vielleicht vergönnt war. Doch sie konnte nicht. Am liebsten hätte sie laut geschrien. So laut sie konnte, ihre Wut, ihren Schmerz und all die Last ihres bisherigen Lebens in diesen dunklen Abgrund, der vor ihren Füßen klaffte, hineingebrüllt.
Fast hätte sie es getan. Sie hatte den Mund bereits geöffnet. Doch dann erklang ein anderes Schreien.
Es kam von unten. Von dort, wohin sie gleich absteigen wollten. Tief aus den tiefsten Tiefen der Schlucht. Es war entsetzlich und schallte in dutzendfachem Echo von den Wänden des Abgrundes wider.
Marie hielt sich die Ohren zu. Und auch die anderen, selbst Ulrich, erstarrten zu Salzsäulen.
» Die Winselmütter « , sagte Maja schließlich, aus ihrer Starre erwacht, mit entschlossener Stimme und machte sich trotz dieser gruseligen Vermutung sogleich daran, den steilen Abhang hinunterzusteigen. Unglaublich behände und schnell war die kleine, alte Frau unterwegs.
» Maja, was tust du da? « , rief Marie ihr nach. » Komm zurück. «
Doch Maja ließ sich nicht beirren. Schon war nur noch ihr Kopf zwischen all den wuchernden Büschen in der Tiefe zu erkennen. Das Winseln und Jammern hatte indessen nicht nachgelassen. Im Gegenteil, es war sogar schlimmer geworden, und Maja befand sich nun auf dem Weg zur Quelle dieser Unlaute.
» Nun lauft ihr nach! Oder soll ich es etwa machen? « Marie wandte sich verängstigt und verärgert zugleich an Regino und Johann, die keine Anstalten machten, Maja von ihrem selbstmörderischen Vorhaben abzuhalten. Stattdessen rührten sie sich nicht einmal, als auch Marie sich mit ihrem mächtigen Bauch daranmachte, die Schlucht hinunterrutschen zu wollen. Sie war schon ins Schlittern geraten, als Ulrich sie von hinten an den Schultern packte und zurückhielt.
» Ihr törichten Weiber « , schimpfte er. » Eine verrückter als die andere. «
Und dann setzte er sich auf den Hosenboden und rutschte mir nichts, dir nichts den Abhang hinunter. Marie schaffte es nicht einmal mehr, ihm nachzurufen, was ohnehin nichts genützt hätte, da sie das Klagen der Spukgestalten dort unten ohnehin nicht hätte übertönen können.
» Wir bleiben besser, sonst bist du am Ende ganz allein, Himbeere « , stotterte Regino. Johann hingegen war gar nicht in der Lage zu sprechen, er blickte lediglich kreidebleich und mit entgleisten Gesichtszügen in den Abgrund hinunter.
So verging eine ganze Zeit.
Angestrengt versuchte Marie Ausschau nach Ulrich und Maja zu halten, wenigstens ein Rascheln der Bäume und Büsche in der Tiefe wahrzunehmen. Doch die beiden blieben verschwunden.
Waren sie abgestürzt? Oder gar angesichts der Geisterfrauen zu Stein erstarrt?
Da! Da waren sie.
Marie stieß Johann in die Rippen und deutete mit dem Finger auf zwei winzige Punkte am Grunde der Schlucht. Sie bewegten sich gezielt auf eine bestimmte Stelle zu, die jedoch so verborgen hinter Felstrümmern und herabgestürzten Baumstämmen zu liegen schien, dass Marie sie nicht ausmachen konnte.
An das Jammern und Schreien hatten sie sich derweil bereits so sehr gewöhnt, dass es fast einem schmerzhaften Erlebnis gleichkam, als es mit einem Male abrupt aufhörte und stattdessen nur mehr einen dröhnenden Nachhall im Kopfe der drei Wartenden hinterließ.
» Was ist geschehen? « , fragte Regino und wagte sich endlich auch wieder näher an die Schlucht, um mit den anderen beiden hinabzublicken.
Stille.
Nur das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der Blätter war zu vernehmen.
Und dann: ein Lachen. Das fröhliche, erleichterte Lachen mehrerer Menschen.
Unheimlich war das. Marie wurde entsetzlich kalt. Was war das nur für ein verwunschener Ort, an den Vitus Fips sie hier gelockt hatte? Sogar nach seinem Tod verstand es dieser Teufel noch, Menschen zu quälen.
Gerade wollte sie wieder all ihren Mut zusammennehmen und nach den beiden mutigen Leuten dort unten rufen, als deren fröhliche Stimmen zu
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