Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
noch andere Kinder gewesen. Sie hatten gespielt. Sie hatten in diesem Haus Suppe bekommen. Jungen und Mädchen waren es, vielleicht acht oder zehn an der Zahl, allesamt älter als die kleine Marie. In dieses Haus waren sie gegangen. Und dort hatten sie Abschied voneinander nehmen müssen. Tränen waren geflossen.
Mehr jedoch wollte Marie nicht einfallen.
» Ja, lass uns besser weitergehen « , wandte sie sich schließlich nach Maja um und hakte die alte Frau freundschaftlich unter. Gemeinsam schritten sie aus der engeren in eine breitere Gasse hinaus, um wieder zum Markt zurückzufinden.
In diesem Moment kam ihnen Regino entgegen.
Er hatte sich am heutigen Tage sehr geschäftig gezeigt und seinen Leuten geraten, sich eine schöne Zeit in Goslar zu machen, während er in wichtigen Angelegenheiten unterwegs sei. Eine solch wichtige oder besser schwierige Angelegenheit schien nun auf ihn zu warten, denn offenbar trug er etwas äußerst Schweres unter seinem kurzen, aber ausladenden Rock. Nur mühselig bewegte er sich mit verkniffenem Gesicht fort, versuchte aber zu grinsen, als er die beiden vertrauten Gesichter auf sich zukommen sah. Doch dieses Grinsen glich in Anbetracht der verborgenen Last, die er schleppte, mehr einer grotesken Maske. Marie musste lachen, und auch Maja schien amüsiert.
» Dich plagen offensichtlich furchtbare Schmerzen, mein guter Regino « , rief sie ihm bereits von Weitem zu. » Hast du dir etwa den Rücken verrenkt? Was ist geschehen? «
» Nicht der Rede wert, nicht der Rede wert, meine guten Frauen. Sorgt Euch nicht um den armen Regino, es wird schon wieder. Geht und nutzt den Tag zur Rast, wir haben noch einen mühseligen Weg vor uns. «
Und schon war er an ihnen vorübergehumpelt.
» Der hat den Sack mit den rostigen Münzen aus dem Wald dabei. Geklaut hat er ihn den Buben « , raunte Maja Marie hinter vorgehaltener Hand zu. Dann winkte sie ab: » Lassen wir es gut sein! Ist eh wertloses Zeug. Nicht einmal ein fahrender Jude würde es ihm als Altmetall abkaufen wollen. «
Regino hatte tatsächlich große Mühe, den bis nach Goslar vom Eselchen getragenen Münzfund nun durch die ganze Stadt zu schleppen. Er ärgerte sich, nicht auch für diesen Weg die Hilfe des Lasttiers in Anspruch genommen zu haben. Aber er hatte kein Aufsehen erregen wollen, denn immerhin war ihm nicht eingefallen, die eigentlichen Finder des Schatzes um Erlaubnis zu bitten, ihre Münzen für einen edlen Zweck zu spenden. Vollkommen verschwitzt und außer Atem erreichte er schließlich das schiefe, nur aus morschen Holzbalken und losem Flechtwerk bestehende Häuschen, vor dem noch vor wenigen Augenblicken Marie stehen geblieben war und welches, eingeengt zwischen zwei größeren, massiveren Gebäuden, ein noch viel jämmerlicheres Bild bot, als wenn es allein auf weiter Flur gestanden hätte.
Dies also war der vor Langem vereinbarte Treffpunkt– in seiner fast schon offensichtlichen Unscheinbarkeit war er kaum zu verfehlen.
Ein wenig Angstschweiß kam nun zu den durch die Anstrengung verursachten Ausdünstungen hinzu. Regino verspürte nur wenig Lust, die Spelunke zu betreten, und kurz überlegte er, ob er es überhaupt wagen sollte. Dann fielen ihm die Worte Majas wieder ein: Stell dich tapfer und so früh wie möglich deinem Feinde, bevor er dich in einer schwachen Stunde aus dem Hinterhalt überrascht.
Im Grunde war ein solches Verhalten wider Reginos Natur. Er ging Schwierigkeiten lieber aus dem Wege, als dass er den Angriff wagte. Aber bevor sie dieses viele, schwere Geld wochenlang mit sich herumschleppten, um es im Land ihrer Träume womöglich gar nicht einlösen zu können, würde er es zu einem besseren Zwecke nutzen. Und dieser Zweck war, jemanden für eine nicht vollbrachte, aber versprochene Dienstleistung zu entschädigen. Ja, er würde sich nun mit Vitus Fips auseinandersetzen müssen, aber womöglich war dieser ja auch gar nicht da. Vielleicht hatte man sich verpasst. Die Wahrscheinlichkeit, dass dem so sei, war nach dem langen Marsch mit all seinen Unbilden nicht gering. Dann hätte sich ohnehin alles erübrigt. Schön wär’s.
» Gott vergelt’s! « , murmelte Regino und öffnete mit letzter Kraft und einem heftigen Ruck die quietschende Türe der düsteren und als solche von außen nicht erkennbaren Spelunke.
Dunkelheit und Mief schlugen ihm entgegen, dennoch irrte er blind hinein und fiel, die beiden nach unten führenden, ausgetretenen Stufen übersehend, direkt vor die Füße von
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