Die Flucht der Gauklerin: Historischer Roman (German Edition)
alte Maja, die in diesem Moment aus den hinteren Tiefen der Höhle wieder zu ihnen stieß und sich zu Marie gesellte, um zusammen mit ihr Haselnüsse vom letzten Herbst zu knacken, welche sie in Quedlinburg günstig erworben hatten und die einen zwar schon holzigen, aber noch immer nahrhaften und gut haltbaren Reiseproviant darstellten.
» Da gibt es weitere Gänge, einen richtigen Stollen gibt es da « , murmelte Maja. Sie hatte längst eine Nuss in ihrem fast zahnlosen Mund und deutete mit der rechten Hand hinter sich. » Leider habe ich nicht genügend Licht, doch mich deucht, es könnte seine Höhle sein. «
» Wessen Höhle? « , fragte Marie und blickte etwas beklommen über ihre Schulter in das düstere Nichts, das sich im hinteren Teil der vorn sehr weiten und vom Tageslicht erhellten Vorhalle der Höhle auftat.
Maja brummte zur Antwort etwas Unverständliches. Sie hatte jetzt bereits drei Nüsse im Mund, die sie nur mit großer Mühe zerkauen konnte. Alles, was Marie verstand, war etwas vom » Tod « , vom » Warten « und von » Rückkehr « .
Wieder blickte sie sich um und hatte plötzlich das Gefühl, einen eisigen Luftzug an der Wange zu spüren. Das Singen Reginos und Wilhelms sowie das rhythmische Klatschen der anderen klang wie aus weiter Ferne nur dumpf in ihren Ohren.
» Wer versteckt sich hier, Maja? « , fragte sie erneut.
Nun hatte die Alte den mühsam eingespeichelten und zerkleinerten Nussbrei endlich heruntergeschluckt und konnte deutlicher reden: » Er versteckt sich hier nicht. Er wartet, dass man ihn ruft. Hast du Krähen in der Nähe der Höhle gesehen? «
» Eine Menge sogar. Aber das ist doch nicht ungewöhnlich. «
Marie fror mit einem Male schrecklich. Unweigerlich rückte sie etwas näher an Adelheid heran, die von dem Gespräch der beiden Frauen nichts wahrnahm, so entrückt saß sie an ihrem Platz und starrte in das Feuer, welches der nervöse Johann nun endlich entfacht hatte und um welches sich Elisabeth noch immer von dem fremden Gaukler an den Händen herumziehen ließ. Auch Lisa und Josef hatten sich nun tanzend hinzugesellt, ebenso Gustav und Fritz, welche einen ihrer bubenhaften Scherze aus diesem Reigen machten, indem sie die beiden Pärchen in übertriebener Manier imitierten.
» Du meinst, es wartet hier jemand in den Gängen der Höhle? « , fragte Marie weiter.
» Nicht irgendjemand wartet hier. Sondern jemand Besonderes. Hast du nie von der Geschichte unseres Kaisers Barbarossa gehört? «
Marie atmete hörbar auf, sie war erleichtert.
» Nein, erzähl mir davon « , sagte sie, während sie mit dem Nüsseknacken fortfuhr.
» Es soll hier irgendwo sein. Hier in der Nähe. In den Kyffhäuser Bergen. Barbarossa war damals mit einer großen Schar Kreuzritter ausgezogen, um das Heilige Land von den Ungläubigen zu befreien. Doch leider ist er niemals dort angekommen. Gestorben ist er auf dem beschwerlichen Weg dorthin. Die Trauer der Menschen war groß, denn selten zuvor hatte es einen solch guten Kaiser gegeben. Man wollte nicht glauben, dass er nie wieder zurückkehren würde, und so erzählte man sich bald die Geschichte, der Kaiser sei gar nicht tot, nein, er ruhe sich nur aus. In einer Höhle sitze er, an einem hölzernen Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, und sein roter Bart sei bereits so lang, dass er durch die Tischplatte hindurchgewachsen sei. Raben umkreisten den Ort. Und an dem Tag, an dem das Reich in großem Elend liegt und der Hand eines mächtigen Herrschers wie Barbarossa bedarf, an ebendiesem Tag sollen die Raben den schlafenden Kaiser wecken, sodass er zurückkehren und seinem Volk Frieden und Wohlstand bringen kann. «
» Das ist eine schöne Geschichte, Maja. Aber doch wohl ein Ammenmärchen, nicht wahr? « , meinte Marie.
Maja zuckte nur mit den Schultern. » Wenn du mich fragst, mein Kind, so sage ich dir: Es gibt keine Märchen. Es gibt nur die Wahrheit in unterschiedlicher Gestalt. Und der Wahrheit, Marie, kann man nicht entfliehen. «
Musste Maja einem ständig Angst machen? Es schien ihr zu gefallen. Langsam jedoch begann Marie sich daran zu gewöhnen und die mysteriösen Drohungen der Alten zu überhören.
» Ich habe übrigens einen solchen gesehen « , sagte sie nur scheinbar lapidar, während ihr Herz jedoch ein wenig schneller zu klopfen begann.
» Einen solchen? « , fragte Maja, während sie mit großer Gewalt einen Stein auf drei Nüsse sausen ließ, um jene auf diese Weise zu Brei zu schlagen, damit sie sich das
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