Die Flucht: Roman (German Edition)
Körper des Alten geschmiegt. Die nahtlose Helligkeit der Ebene öffnete ihm die Augen, und als Erstes fiel ihm der stinkende Verwesungsgeruch auf, der den Mann umgab, so streng wie der eigene, nur weniger vertraut. Er blinzelte ein paarmal, um wach zu werden, und kroch an die Stelle zurück, an die er sich gelegt hatte, in der Hoffnung, der Hirte schlafe noch. Der Alte, der noch genauso dalag wie am Abend zuvor, wandte den auf den Sattel gebetteten Kopf dem Jungen zu und bat ihn, ihm eine Ziege zu bringen. Der Junge schämte sich, als er merkte, dass der Alte vor ihm aufgewacht war, und wusste nicht, wie er es deuten sollte, dass sie nebeneinandergelegen hatten, ohne dass der Ziegenhirt von ihm abgerückt war. Er stand auf und klopfte sich den Staub ab. Rotzflecken waren auf seinem Hemd,und Büschel wie von Rosshaar hingen am Ansatz der Hosenbeine.
Nach dem Frühstück bat der Alte den Jungen, ihm mit der Decke ein Schutzdach gegen die Morgensonne zu basteln. Der Junge stopfte die Decke an zwei Enden jeweils in ein Loch in der Mauer und klemmte sie mit Stöcken fest. Sobald er fertig war, ließ er sich außerhalb des Schattens neben dem Alten nieder und wartete auf weitere Instruktionen, denn so begann ihr Zusammenleben, sich zu gestalten. Der Hirte, eingeschränkt durch die fortschreitende Steifheit seiner Gelenke, ruhend, der unerbittlichen Glut des Himmels ausgesetzt. Der Junge, als verlängerter Arm des Alten, bereit für die Plackerei, die ihnen die karge Ebene auferlegte. Eine ganze Weile regten sie sich nicht. Der Alte an den Sattel gelehnt, der Junge wartend in der brütenden Sonne. Schließlich hielt er es nicht mehr aus, stand auf und ging um die Mauer herum, um sich dort, auf der anderen Seite, in den Schatten zu legen. Irgendwann döste er ein, bis später die Sonne allmählich den Rand der Mauer überschritt. Er gesellte sich wieder zu dem Ziegenhirten, und gemeinsam aßen sie ein paar Käsereste und etwas von dem bisschen Trockenfleisch, das noch übrig war.
Den größten Teil des Nachmittags brachte der Alte damit zu, in einer Bibel mit abgerundeten Ecken zu lesen, die er in einen Stofffetzen gewickelt aufbewahrte. Er verfolgte die Worte mit dem Zeigefinger, während er sie Silbe für Silbe vor sich hinsagte. Derweil erkundete der Junge gemeinsam mit dem Hund die Umgebung der Burgruine. Auf seinem Streifzug entdeckte er Reste derFundamente, die den alten Grundriss der Burg erkennen ließen, und fragte sich, wo wohl all die Steine abgeblieben waren, aus denen die Wände und Decken bestanden hatten. Er stieß auf ein paar vertrocknete Eidechsen und Gewölle, gefüllt mit kleinen Knöchelchen und zerrupftem Flaumhaar. Auf der Südwestseite der Mauer fand er Federn und verschrumpelte Hautfetzen, die er als Reste eines Festschmauses der Steinkäuze deutete.
Am anderen, der Mauer gegenüberliegenden Ende des Fundaments kletterte er eine Böschung hinab, in der Kaninchen sich einen Bau mit Dutzenden von Ausgängen gegraben hatten. Dann kehrte er zu dem Alten zurück, um ihm seine Entdeckung mitzuteilen. Er erklärte ihm, dass es überall Spuren und Kot gebe. Auch von seiner Erfahrung als Jäger mit Hilfe von Frettchen sprach er und davon, wie sehr diese Methode derjenigen glich, derer sich der Alte beim Einfangen der Ratte in der Grube bedient hatte. Er erzählte ihm von Tagen der Jagd auf den Bahndämmen und wie man die erbeuteten Tiere an den Hinterläufen aufhängt und ihnen mit Knüppelschlägen das Genick bricht. »Die Hasen sehen dann so aus«, sagte er Fratzen schneidend, die zitternden Arme von sich gestreckt. Juli sei der beste Monat, um Rebhuhnjunge zu fangen. »Man muss zur Mittagszeit losziehen, wenn es am heißesten ist, und sobald man eine Henne mit Jungen erspäht, eines auswählen und es pausenlos jagen. Irgendwann erlahmen sie.« Dann erklärte er, ohne die Mutter zu erwähnen, wie man ein Kaninchen häutete oder einer Taube den Hals umdrehte. Der Hund neben ihm wedelte mit dem Schwanz, als wollte er den abenteuerlichenTräumereien des Jungen Luft zufächeln. Nachdem er zu Ende erzählt hatte, erklärte der Alte ihm, es bringe nichts, Kaninchen zu jagen, denn um sie zu grillen, müssten sie Feuer machen, und das würde die Männer anlocken, die nach ihm suchten. Der Junge war gekränkt angesichts dieses Dämpfers, denn endlich hatte er gedacht, er könne dem Mann, der alles zu wissen schien, auch mal etwas beweisen. Vor lauter Enttäuschung war er unfähig zu begreifen, was der Alte ihm
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