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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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weiter und mündete in einen Treidelweg, der parallel zu einem erhöhten alten Bewässerungskanal verlief, dessen verfallene Stützpfeiler sich in der glutheißen Luft verbogen. Daneben konnte man noch den ellenlangen Hohlweg erkennen, auf dem einst Barkassen vollgeladen mit Baumstämmen und Getreidesäcken verkehrtwaren. Sie scherten aus und überquerten das Geröllfeld, bis sie eine Stelle fanden, an der die Wand sie nicht erschlagen würde, sollte sie einstürzen. Unbewusst leiteten Vorsicht und Angst ihr Handeln. Eine ganze Weile musterten sie die Mauer, als stünden sie vor einem unwiederbringlichen Wunder. Links ein runder Turm, dann die Wand und schließlich der Horizont in der Richtung, aus der sie gekommen waren. Auf der Turmseite ein Rundbogen, der ein zugemauertes Tor umriss. Am oberen Rand der Mauer über dem Tor eine völlig unversehrte Brustwehr, von drei Kragsteinen gehalten. Die Ziegen verteilten sich ungezwungen über das gesamte Gelände, allein von der Suche nach trockenen Grasresten getrieben. Hätte die Mauer in diesem Moment nachgegeben, wären sie fast alle erschlagen worden. Der Junge musterte ausgiebig die Skulptur und stellte eine Ähnlichkeit mit der Figur des Heiligen Jesu fest, die bei ihnen in der Kirche stand. Nur für einen kurzen Moment verspürte er Lust, dorthin zurückzukehren, sich zu den Kindern im Schulhof zu gesellen und ihnen von seiner Entdeckung zu erzählen. Ihnen zu erklären, dass das Grauen nicht oben auf einer Burg thronte, sondern begleitet von Fehlzündungen und giftigen Rauchwolken durch die Dorfstraßen streifte.
    Nach einer Weile wandte sich der Junge zu dem Alten um und wartete darauf, dass er die Besichtigung für beendet erklärte, um den Esel zu entladen und auszuruhen. Doch der Mann starrte abwesend auf die Mauer. Der Junge dachte, der Ziegenhirt sei eingeschlafen. Er konnte die länglichen Nasenlöcher des greisen Mannes sehen und die langen weißen Haare, die aus der Schwärze hervorwuchsen.Den weißen Viertagebart, den Kiefer mit der schlaff herabhängenden Haut seines abwesenden Gesichts. Am liebsten hätte er ihn am Ärmel gezupft, um ihn aus seinen Gedanken zu holen, doch diese Art von Vertraulichkeit war ihm untersagt. Er räusperte sich, kratzte sich am Nacken und hampelte herum, als müsste er unbedingt mal. Doch der Alte reagierte nicht.
    »Señor.«
    Der Hirte drehte sich brüsk um, als hätte er ihn beleidigt, und da erst gingen sie auf die Mauer zu. Dort angekommen ließ der Alte sich an der Mauer fallen, und der Junge befreite den Esel von seiner Last. Er hob die Sachen aus dem Sattelgestell und lud sie neben dem Alten ab. Später montierte er die Körbe ab und räumte die Habseligkeiten des Hirten wieder hinein. Der Alte bat ihn, den Sattel zu holen, damit er sich daran anlehnen könne. Der Junge versuchte, ihn von der Seite abzunehmen, aber das Stück klemmte zu fest auf dem Rücken des Lasttiers, und sosehr er sich auch bemühte, es gelang ihm nicht, ihn herunterzuheben. Aus einem der Körbe kramte er einen Pfriemgrasstrick hervor, der beim Umzäunen des Geheges übrig geblieben war, und knotete ihn am Sattelgurt fest. Das andere Ende befestigte er an einem von der Burg herabgefallenen Stein und zog am Halfter. Als das Tier sich in Bewegung setzte, rutschte der Sattel über sein Hinterteil und fiel zu Boden.
    Er brachte den Sattel zu dem Hirten, der aus der Nähe betrachtet viel erschöpfter wirkte als an den Tagen zuvor, wie ein kranker Mann. Der Alte sagte, sie würden ein paar Tage hierbleiben, da es in der Nähe einen Brunnengebe und die Burgruine kilometerweit der einzige schattige Fleck sei, an dem die Ziegen Nahrung fänden. Der Junge schaute sich in der Gegend um. So weit das Auge reichte, nichts als Schotter und ausgetrockneter Lehm. Nur ein paar verstreute Reste zum Grasen für die Tiere. Der Junge dachte, dass sie bisher noch keinen Tag ohne Schatten verbracht hatten und dieser Ort hier der armseligste war, an dem sie je gerastet hatten. Als er sich dem Alten wieder zuwandte, lag dieser auf den Steinen, den Kopf auf den Sattel gebettet, den Hut über das Gesicht gezogen. Der Junge dachte, er sei erschöpft vom langen Weg, und wenn sie hierblieben, dann nur, weil die Knochen des Alten streikten. Er bückte sich, fasste die Flaschen am Hals und schüttelte sie, um zu überprüfen, wie viel Wasser ihnen noch blieb.
    Gegen Mittag packte er dem Esel den Lastsattel und die Tragekörbe auf, die er mit den Flaschen und dem Melkeimer belud.

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