Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
Vom Netzwerk:
Von seinem Lager aus beschrieb ihm der Hirte, was er vorfinden würde, wies ihm den Weg mit dem Zeigefinger und lieh ihm, bevor er sich aufmachte, seinen Strohhut.
    Obwohl die Zisterne, neben der der Brunnen lag, von der Burg aus zu sehen war, standen dem Jungen Schweißperlen auf der Stirn, als sie dort ankamen. Wie von dem Alten beschrieben, fand er den runden Wasserspeicher und ein paar Meter weiter einen Ziehbrunnen aus Backstein mit einem plumpen Galgen, an dem ein Schöpfhaken mit vier Krallen hing. Jemand hatte Stöcke in den Schacht geworfen, die kreuz und quer übereinanderlagenund kein Loch freiließen, um den Eimer ins Wasser zu tauchen. Mit dem Schöpfhaken zog er sie heraus, bis er eine Öffnung geschaffen hatte.
    Er brauchte mehrere Stunden, um beide Flaschen zu füllen. Er verschloss sie mit dem Korken. Dann griff er sich eine und wollte sie auf den Esel hieven, bekam sie aber nicht hoch. Schließlich musste er jede bis zur Hälfte wieder ausleeren, doch auch so hatte er größte Mühe, sie in die Körbe zu laden.
    Erst als es auf den Abend zuging, kehrte er zur Burgruine zurück, zerschlagen von der Anstrengung. Der Alte lag immer noch an derselben Stelle, an der er ihn zurückgelassen hatte. Der Junge lud das Wasser ab, befreite den Esel und fesselte ihn an den Vorderhufen, und nachdem er allen Ziegen Wasser zu trinken gegeben hatte, ließ er sich neben dem Alten nieder und beobachtete die sich wandelnde Textur des Lichtes, während die Sonne hinter der Mauer versank. Man hörte das Geflatter der Tauben, die zum Schlafen in den Turm heimkehrten.
    Zu Abend aßen sie ranzige Mandeln und Rosinen im Schein des Halbmonds, und als sie fertig waren, räumte der Junge die Sachen auf und säuberte anschließend wenige Meter vom Liegeplatz des Alten entfernt ein Fleckchen Erde von Steinen. Dabei fand er den Schädel eines Hasen. Ihn in Händen haltend, strich er mit den Fingerkuppen über seine komplexen Formen. Er stellte sich den Kopf auf einer kleinen ovalen Platte aus dunklem Holz vor, eine Jagdtrophäe in Miniatur. Darunter stünde auf einer Messingplakette der Name des Jägers sowie das Datum, an dem er das Tier erlegt hatte. Er legte den Schädelbeiseite und rollte die Satteldecke zusammen, um seinen Kopf darauf zu betten. Er war so müde, dass ihm selbst der derbe Eselsgeruch, den sein improvisiertes Kopfkissen verströmte, angenehm erschien. Er wünschte dem Alten eine gute Nacht und erhielt wie üblich keine Antwort. Im Liegen suchte er am Himmel nach den Sternzeichen, die er kannte, und richtete den Blick dann auf den Mond. Das milchige Licht schmerzte auf der Netzhaut. Als er die Augen schloss, sah er immer noch den flackernden Lichtbogen. Ihm kam der Schädel wieder in den Sinn. Auf der feuchten Leinwand seiner Lider zogen Erinnerungen an die Trophäengalerie im Haus des Polizeiwachtmeisters vorbei. Er dachte daran, wie er in Begleitung seines Vaters jenen Ort zum ersten Mal betreten hatte. Der herbe Holzgeruch und das Knarren der langen Dielen, ein Boden, wie er ihn von keinem anderen Ort kannte. Wie sie beide im Empfangszimmer gewartet hatten, der Vater die Mütze zusammengeknüllt vor der Brust. Die dunkle Täfelung und der lange Saal voller Mufflons, Rotwild und Stiere.
    »Ist das dein Junge?«
    »Ja, Señor.«
    »Ein bildhübsches Bürschchen.«
    Bei der Erinnerung an die Stimme des Polizeiwachtmeisters schossen ihm die Tränen in die Augen wie aufwallendes Blut. Er biss sich auf die Lippen, das Gesicht dem Himmel zugewandt, und spürte einen Schwall, der die Tränendrüsen durchbrach und ihm allmählich die Nase verstopfte. Er schniefte und schluckte, um die Nasengänge freizubekommen, doch die Geräusche, die erdabei erzeugte, mahnten ihn zur Vorsicht, da er fürchtete, der Ziegenhirt könne ihn hören.
    »Hab keine Angst. Hier wird dir nichts geschehen.«
    Die Stimme des Alten brach aus den Tiefen der Erde hervor, bahnte sich ihren Weg durch die Felsschichten hindurch, um das sie zuschnürende Korsett zu zersprengen, das sie umgab. Der Junge verstummte mit einem Kloß im Hals. Während er die Grillen zirpen hörte, fing er an, die Nase hochzuziehen und den Rotz zu schlucken, bis er spürte, wie wieder frische Luft durch seine Nasenlöcher drang. Er trocknete sich die Tränen, bettete sein Gesicht auf die zusammengelegten Hände und schlief kurz darauf ein.
    Obwohl er sich einige Meter entfernt von dem Ziegenhirten hingelegt hatte, erwachte der Junge am nächsten Morgen eng an den reglosen

Weitere Kostenlose Bücher