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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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unter all den anderen Gerüchen kaum merklichen Aroma lockte. Er riss sie herunter und vernahm beim erstenherzhaften Bissen ein leises Knirschen, das er sogleich auf einen kaputten Backenzahn schob. Er tastete nach seiner Wange, verspürte aber keinen Schmerz.
    Er blickte sich erneut langsam um, fühlte sich irgendwie beobachtet. Zuerst suchte er mit den Augen die helleren Stellen des Zimmers ab, dann die dunkleren. Entdeckte aber nichts. Um keinen Bereich auszulassen, legte er die Blutwurst auf den Tisch und stellte sich ins Zentrum des Lichtflecks, der vom Fenster auf den Fliesenboden fiel. Breitbeinig, die Hüften tief. In Habtachtstellung, wie ein Pferd mit angelegten Ohren. Ganz langsam drehte er sich um die eigene Achse, und da fiel es ihm ins Auge: ein Wandschrank in der Ecke des Raumes, verborgen hinter einem Vorhang. Der Stoff reichte bis knapp über den Boden, und darunter schaute etwas hervor, das aussah wie ein Ellenbogen. Er flüchtete sich kurzerhand hinter den Tisch und wartete ab, was geschehen würde. Eine ganze Zeit lang starrte er auf den Arm, ohne eine Bewegung oder ein Geräusch zu vernehmen. Erst dachte er, der Ellenbogen gehöre vielleicht dem schlafenden Krüppel, doch dann wurde ihm klar, dass kein vernünftiger Mensch an einem solchen Platz ruhen würde. Womöglich ein Betrunkener oder einer, der sich wie er für die Räucherwürste oder die Weinfässer interessierte. Immer noch hinter dem Tisch verschanzt, schaute er sich nach etwas um, mit dem er den Vorhang aus der Entfernung anheben konnte. Hinter sich fand er eine Stange mit einer Zange am Ende, wie sie der Krämer in seinem Dorf benutzte, um an die oberen Regalfächer zu gelangen. Diese schnappte er sich und trat hinter dem schützendenTisch hervor. Etwa zwei Meter vor dem Wandschrank hielt er inne und streckte die Stange nach vorne, um den Vorhang mit der Zange zu packen. Das schwere Eisen geriet ihm aus dem Gleichgewicht und stieß gegen etwas Hartes hinter dem Stoff. Schnell zog er den Arm ein und trat einige Schritte zurück. Nichts geschah. Das Licht, das durch das offene Fenster drang, durch das er eingestiegen war, ließ weite Teile des Raumes klar hervortreten. Doch abseits des Lichtkegels, in den dunklen Winkeln, etwa dort, wo der Arm hervorschaute, lauerten ungeahnte Gefahren.
    Zitternd tastete er erneut mit der Stange nach dem Vorhang. Er schob ihn seitlich auf und erkannte sofort den Kopf des Krüppels. Die eitrige Wunde auf der Stirn wie ein Brandmal. Um ihn ganz zu sehen, zerrte er weiter an der Gardine, bis die Eisenschiene, die den Vorhang hielt, aus der Halterung rutschte und zu Boden krachte. Die Staubwolken stoben auf wie Taubenschwärme, wenn Pferde vorbeiziehen, und lösten sich in der dunklen Nische auf.
    Der Anblick des nackten Körpers erinnerte den Jungen an einen vollen Weinschlauch. Die haarlose Haut, die Wölbungen an den Stellen, an denen nur Knochen waren. Die bloßliegenden Narben an den Beinstümpfen wie die Nähte an den mit Wein gefüllten Tierhäuten. Er ging näher heran und stieß den Körper mit der Stiefelspitze an. Magen, Brust und Schultern – keine Reaktion. Er ging in die Knie, packte den Mann beim Kinn, rüttelte an seinem Gesicht. Zog ihm die Lider hoch, aber da waren nur zwei Augäpfel, gelb verfärbt wie altes Elfenbein,gänzlich pupillenlos. Dann trat er ein paar Schritte zurück, ließ den Mann nicht aus den Augen und rutschte, als er mit dem Rücken an die Wand stieß, an ihr hinunter auf den Boden.
    Lange starrte er auf den missgestalteten Körper und fragte sich, ob er es gewesen war, der ihn umgebracht hatte. Das letzte Mal, als er ihn gesehen hatte, war ihm durchaus der Gedanke gekommen, den Mann zu töten. Aber letztendlich hatte er ihn lediglich ohnmächtig bei der Zisterne liegen lassen und damit hingenommen, dass er aufgrund seines schlechten körperlichen Zustands und der feindlichen Umgebung zu Tode kommen könnte. Er beobachtete den Brustkorb, wartete darauf, dass er sich hob und senkte, doch nichts füllte mehr seine Lungen. Er versuchte zu verstehen, was vorgefallen war. Sein Kopf beherrscht vom Gedanken an den Tod. Schon Hunderte Male war er ihm begegnet, fast immer in den Predigten des Pfarrers. Die Ägypter, zu Tausenden im Roten Meer ertrunken. Herodes, der alle Neugeborenen hatte töten lassen, oder der verblutende Jesus Christus auf dem Weg nach Golgatha. Das hier war etwas anderes, und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.
    Eine Ewigkeit verharrte er dort in

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