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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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etwas später trennten, eine schwenkte nach Norden ab, die andere nach Süden. Am Wegesrand frischer Pferdemist. Der Hirte und die Ziegen schlossen zu ihm auf.
    »Er ist nicht mehr da«, sagte der Junge und wies mit dem Kinn auf die Pferdehaufen.
    Über Nacht suchten sie in der Zisterne Schutz. Die runde Ummauerung hatte einen Durchbruch, durch den der Junge den Ziegenhirten hineinführte. Aus dem Innenraum schlug ihnen die angestaute Hitze des Tages entgegen, doch das war ihnen lieber als der steinige Boden draußen. Abends tranken sie Ziegenmilch und legten sich, während sie noch auf den am Morgen von dem Jungen ausgegrabenen Süßholzwurzeln kauten, zum Schlafen nieder. Tagsüber hatte der Alte wenig geredet und nicht ein einziges Mal geklagt. Nicht so während der Nacht. Kaum war er eingeschlafen, begann er zu stöhnen und hörte bis zum Morgengrauen nicht wieder auf. Halb mitleidig, halb schockiert beobachtete der Junge ihn in seinem Fieberwahn. Die ersten jammernden Laute hatte er vernommen, als er in die Dunkelheit starrend auf den Schlaf gewartet hatte. Er war aufgestanden und zu dem Alten hingegangen, der sich auf seiner Decke unruhig hinund herwälzte, schmerzhaft, wie ein Würfel über Marmor. Der Mond tauchte das Innere der Zisterne in blaue Schatten, und einmal sah der Junge die feuchten Lider des Alten. Ein paar Tränen, die über seine knochigen Wangen rannen. Erst als die Alpträume kurz vor Sonnenaufgang aufhörten, fand der Junge Schlaf. Aber schon bald rüttelte ihn der Alte an der Schulter wach.
    »Wir müssen los.«
    Er hatte nur kurz geschlafen, doch als er aufstand, fühlte er sich frisch, als habe er die ganze Nacht auf einer Matratze geruht. Einen Moment lang wusste er nicht, ob er das Stöhnen und die Tränen des Alten nur geträumt hatte. Er goss Wasser aus der Flasche in eine gewölbteHand, wusch sich das Gesicht und richtete sich dann auf, um einen Blick nach draußen zu werfen. Die morgendliche Brise erfrischte sein noch feuchtes Gesicht, ein Gefühl, als überquerte er einen Pass, wo ihm der Wind aus dem nächstgelegenen Tal entgegenschlug.
    »Beeil dich, Junge!«
    Er sammelte ihre Sachen ein, rollte die Decke des Alten zusammen und half ihm in den Sattel. Dann holte er die Ziegen, und sie kehrten zum Weg zurück. Dort angekommen trotteten sie in Richtung Norden los. Vier Stunden später erreichten sie den Eichenhain nahe dem verlassenen Dorf und suchten sich einen Rastplatz.
    Als der Alte schließlich bequem an einem Baumstamm lehnte, trug er dem Jungen auf, zwischen mehreren Kermeseichen einen Pferch zu errichten. Die Lücken schloss der Junge mit trockenen Zweigen, dann sperrte er die Ziegen in den Pferch, lud den Esel ab und gesellte sich in Erwartung weiterer Anweisungen wieder zu dem Hirten.
    »Wir müssen von hier verschwinden.«
    »Aber wir sind doch gerade erst angekommen.«
    »Ich meine aus der Ebene.«
    »Sie können bleiben. Der Polizeiwachtmeister sucht nur nach mir.«
    »Sieh mich an!«
    Der Hirte schlug sein Jackett zurück, um seinen Körper zu entblößen.
    »Ich habe mit diesem Mann auch noch eine Rechnung offen.«
    Ob der Alte damit die Auspeitschung meinte oder eine frühere Angelegenheit, fragte der Junge nicht. Erdachte nur, in einer so dünn besiedelten Gegend wäre es nicht verwunderlich, wenn die beiden sich früher schon einmal begegnet wären.
    Der Alte sagte, sie würden in die Berge fliehen. Dort könnten sie leichter untertauchen, denn der Polizeiwachtmeister würde sie wohl kaum bis in eine Gegend verfolgen, die so weit außerhalb seiner Befehlsgewalt lag. Er erklärte dem Jungen, in den Bergen gebe es das ganze Jahr über Wasser, und mit etwas Glück brächten sie auch die Herde durch. Der Junge lauschte dem Alten und stimmte ihm in allem zu, was er sagte.
    Es sei ein langer, gefährlicher Weg, und der Hirte betonte noch einmal, wie wichtig es sei, so rasch wie möglich aufzubrechen, und dass sie des Nachts reisen müssten, um von niemandem gesehen zu werden. Sie bräuchten alle Lebensmittel, die sie kriegen könnten.
    Sie verabredeten, dass der Junge zunächst allein losziehen solle, um die Herberge zu erkunden. Sollte sie leerstehen, würde er zum Eichenwäldchen zurückkehren, um gemeinsam mit dem Alten in das Haus einzudringen und sich mit Vorräten einzudecken.
    »Und wenn der Krüppel da ist?«
    »Dann kommst du wieder her, und wir überlegen uns eine andere Lösung.«

10
    D er Junge verließ das Eichenwäldchen wie zwei Abende zuvor quer über

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