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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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klar, dass das, was ihn lähmte, die Furcht war, an einen Punkt zu gelangen, von dem er nicht mehr zurück konnte. Fern von dem schattigen Platz unter den Eichen, den Fluchtwegen, die sich dort boten, den Armen des Alten. Umgeben von Feindesland ohne Soldaten, doch voller dunkler Schatten und Abgründe.
    Er lehnte sich an die Lehmmauer, schüttelte den Kopf, um seine Benommenheit loszuwerden. Atmete so tief durch, wie er konnte, und plötzlich wurde sein Kopf wieder klar. Nun spürte er erneut, wie der Hunger ihn plagte, aber der Druck auf den Schläfen verschwand. Er drehte sich um und warf einen Blick in den Hof hinter einem der Häuser, dessen Dach eingestürzt war. Dort fanden sich Korbstuhlgerippe, ohne Sitz und ohne Lehne, Maschendrähte von Hühnerställen, Schuttberge aus zertrümmerten Dachziegeln und dem zerbröckelten Lehm der Backsteine. Im Haus flatterten Spinnweben in der Zugluft. Gebückt und immer hinter den Häusern entlang machte er sich weiter auf den Weg bis zum letzten Gebäude vor der Herberge. Dicht an die Wände gedrängt, wie ein Schatten von Lücke zu Lücke huschend. Schließlich flüchtete er sich in den Eingang der Herberge, wartete still ab, ob der Krüppel sich regte. Harrte so lange aus, wie er es für nötig hielt, um sicher zu sein, dass ihm imHaus niemand auflauerte. Trotz der scheinbaren Stille konnte der Krüppel sehr wohl drinnen oder unter dem Laubengang liegen und schlafen. Allein der Gedanke an die Räucherwürste brachte ihn in Versuchung, in das Haus einzubrechen. Doch es war zu riskant. Nicht unbedingt wegen des Krüppels, sondern wegen des Mannes, der ihn womöglich hergebracht hatte. Er sah seinen Verräter wieder vor sich, wie er mitten auf dem Weg gelegen hatte. Voller Blut und Geifer, die Wunde, die der Esel ihm verpasst hatte, auf der Stirn. Der Junge wischte sich mit der Hand über seine eigene, als könnte er sie dort ertasten. Dann schaute er sich nach allen Seiten um, verließ den schützenden Schatten des Eingangs und schlich sich ans rückseitige Fenster. Die Fensterläden waren geschlossen. Grün, wie vorne am Haus, jede Klappe mit einem ausgefrästen Rhombus in der Mitte. Er ging in die Hocke, zog an den unteren Leisten, um die Läden einen Spalt weit zu öffnen, und lauschte, das Ohr auf der Höhe der Fensterbank. Nach einer Weile richtete er sich auf und schob das Gesicht durch den Spalt. Die Luft roch nach feuchtem Leinen, nach Kalk und Lehm von den Wandziegeln. Einige Zeit blieb er so stehen. Die Fensterläden schützten nur noch die zerbrochenen Glasscheiben, die verschmiert in den Metallrahmen steckten. Durch den Spalt konnte er in den dunklen Raum spähen. Als Erstes erblickte er die Rhomben der Fensterläden an der Vorderseite des Hauses sowie die Punkte des einfallenden Lichts am Boden. Zunehmend an die Dunkelheit gewöhnt, konnte er allmählich auch den Tisch, den Wandschrank und die Eisenstange mit den Räucherwürstenausmachen. Bei ihrem Anblick lief ihm das Wasser im Mund zusammen und sein Magen fühlte sich an wie in einem Schraubstock. Als hätten sein Wille oder seine Angst sich geschlagen gegeben, zog er die Läden ganz auf, stützte sich am Pfosten ab und erklomm mit einem Satz die Fensterbank. Von dort stieß er das Fenster nach innen auf, und als sich das Licht im Raum ausbreitete, hatte er nur noch Augen für die ölig perlenden Würste und die Schinken, die Fett ausschwitzten wie Destillierkolben. Er sprang von der Fensterbank ins Innere des Hauses und landete auf einer wackligen Fliese. Die Kacheln mit verblassten geometrischen Farbmustern. Doch etwas Seltsames lag in der Luft, etwas, was ihm das erste Mal, als er sich dort befunden hatte, nicht aufgefallen war. Er schaute sich flüchtig um und hatte, nachdem er nichts Verdächtiges fand, nur noch Augen für die Räucherwaren.
    In drei Schritten war er bei ihnen, riss eine Paprikawurst von der Stange ab und stopfte sich den Mund mit dem roten Fleisch voll, ohne auf die würzige Schärfe zu achten oder seinen seit Tagen hungernden Magen zu schonen. Er gab sich ganz der Gier hin. Verschlang die gesamte Wurst, Bissen für Bissen, fast ohne zu kauen, wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab und beschmierte ihn mit Fett und roter Paprikafarbe. Während er noch an einem Stück kaute, schielte er schon zu dem nächsten, um die Zähne hineinzuschlagen. Er reckte sich und schnupperte an einer Räucherwurst, die aber ranzig roch. Dann hielt er die Nase an eine Blutwurst, die ihn mit ihrem feinen,

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