Die Flucht: Roman (German Edition)
das Feld, um den Weg zu umgehen. An den Baumstamm gelehnt, sah der Alte ihm nach und lauschte der losen Sohle, die über den Boden schlurfte und eine Schneise durch den Blätterteppich zog. Bevor der Junge aus dem Schatten der Bäume hinaustrat, drehte er sich noch einmal um und begegnete dem Blick des Hirten. In diesem Moment ahnten sie beide nichts von dem, was ihnen noch bevorstand.
Der Junge kroch dicht am Boden entlang, den Proviantsack an der Seite, bis er eine umfassende Sicht auf das Dorf hatte. Eine Weile verharrte er auf der Erde, um nach Lebenszeichen Ausschau zu halten. Lieber hätte er sich noch länger Zeit gelassen, um jedes einzelne Haus, jeden Schornstein abzusuchen, doch die Erinnerung an seinen letzten Sonnenstich saß ihm im Nacken, und so beschloss er, seinen Weg fortzusetzen. In geduckter Haltung legte er mal in schnellem Lauf, mal im Schritttempo die Strecke bis zum Friedhof zurück, wo er sich, anders als beim letzten Mal, nicht länger aufhielt. Von dort aus rannte erweiter, mied aber den direkten Weg und schlug einen Bogen, um die Kirche so lange wie möglich zwischen sich und der Herberge zu haben. Auf der gesamten Strecke presste er den Proviantsack eng an seinen Körper und reckte den Kopf, um das Dorf keine Sekunde aus den Augen zu lassen. Als er die Kirchenmauer erreichte, hatte er einen steifen Hals und vom Nacken aus aufsteigende Kopfschmerzen. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und ließ sich abwärtsgleiten. Kleine Kalkstücke bröckelten von der Mauer ab. Ein falscher Schneefall in der Wüste. Die Sonne stand über der Kirche im Zenit, und für einen Moment war er versucht, eine Weile auszuharren, bis sie weiterwanderte und das Gebäude ihm ein wenig Schatten spendete. Dort, wo er sich befand, hatte er den Eichenhain im Visier, ein weit entfernter graubrauner Farbfleck, und er musste an den Alten denken, der an einen Baumstamm gelehnt ausruhte, so wie er ihn zurückgelassen hatte. Ihn quälte die Erinnerung daran, wie der Hirte seine zerlumpte Kleidung aufgeschlagen und ihn noch einmal bewusst auf seinen geschundenen Oberkörper aufmerksam gemacht hatte, auf die Wunden und die vereiterte Narbe zwischen den Rippen. Er hatte auf einmal eine schreckliche Vorstellung, was mit dem Mann geschehen würde. Ein Gefühl, das in einem fremden Winkel seiner selbst aufkeimte und ihn mitten in dieser gottverlassenen Einöde frösteln ließ. Das zurückliegende Brachfeld ein Sinnbild der Trauer. Es trieb ihn zum Eichenhain zurück. Er löste sich von der Mauer, wollte sich schon auf den Weg machen, doch der Räucherspeck in der Herberge verhieß Aussicht auf Rettung,und das wog schwerer als die Angst, den Hirten nicht wiederzusehen.
Dicht an der Mauer entlang schlich er um die Kirche herum, ohne das Dorf und die Herberge aus den Augen zu lassen. Er erwartete kein auffälliges Lebenszeichen von Seiten des Krüppels, höchstens ein offenes Fenster oder einen rauchenden Schornstein. Sein Magen knurrte wie siedendes Gummi. Während er auf einem Aussichtsposten an der Ecke gestanden hatte, war der Schatten der Akazie vor dem Säulengang der Kirche bis zu einem Kakteengestrüpp weitergewandert. In geduckter Haltung huschte er dorthin und wartete erneut ab. Die Kakteen boten ihm die letzte Deckung vor dem Weg durch offenes Gelände. Er ging noch einmal alle seine Möglichkeiten durch, denn obwohl nichts auf die Anwesenheit des Krüppels im Dorf hindeutete, ließ ihn die Furcht vor einem erneuten Aufeinandertreffen nicht los. Um ihn herum lauter verdorrte Kohlstrünke, tote Lanzen mit holzigen Blüten. Er fuhr sich mit der flachen Hand über das Gesicht. Rieb sich Stirn und Augen. Fühlte die verkrusteten Wunden.
Lange plagten ihn Zweifel, eine zermürbende Anspannung. Vor dem freien Feld, das ihn von der Herberge trennte, wartete er vergeblich, dass seine Beine von alleine losliefen, bis ihm die Sonne, die ihm auf den Kopf prallte, unerträglich wurde. Da erst kroch er auf allen vieren aus der Deckung hervor, richtete sich auf und setzte zu einem Wettlauf ohne Zeugen an, der an den verlassenen Häusern endete.
Hinter der halbzerfallenen Lehmmauer eines Hinterhofswarf er sich zu Boden. In der kurzen Zeit ohne Schutz hatte er, halb benommen vor Panik, nichts mehr von seiner Umgebung mitbekommen. Sein Herz hämmerte so heftig, dass er den Pulsschlag bis in den Hals, die Schläfen und die Leisten spürte. Kopfschmerzen quälten ihn, und als er wieder an das Eichenwäldchen dachte, wurde ihm
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