Die Flucht: Roman (German Edition)
den Anblick des Leichnams vertieft. Gebannt von dessen Verstümmelungen, gelähmt von der Grausamkeit, die er sah. Er konnte keinen vernünftigen Gedanken mehr fassen. Nur wenige Minuten bei klarem Verstand hätten ausgereicht, um ihm die Hufspuren der zwei Pferde bei der Zisterne ins Gedächtnis zu rufen, an der er den Krüppel zurückgelassen hatte. Er war auch unfähig, die bläuliche Linie unter demKinn des Leichnams wahrzunehmen, wo sich der Strick eingeschnürt hatte. Er fragte sich nicht einmal, warum der Krüppel nackt war. Ohne zu begreifen, dass er sich in Gefahr befand, verharrte er so lange in seinem Stumpfsinn, bis er ein Kratzen an der Eingangstür vernahm.
Hastig sprang er auf und drückte sich mit dem Rücken an die Wand. Erst nach und nach erkannte er, dass es die Pfoten eines Tieres waren, die am Holz kratzten, und entspannte sich wieder. Er ging hin und öffnete die Tür einen Spalt weit. Davor stand schwanzwedelnd der Hund des Hirten, blickte treuherzig und mit heraushängender Zunge zu ihm auf. Da öffnete er die Tür ganz und begrüßte das Tier, das freudig an ihm hochsprang. Wie schon so oft hockte der Junge sich hin und nahm den Kopf des Hundes in beide Hände, um ihn unter dem Maul zu kraulen. Dabei fiel sein Blick auf die Beine eines Mannes, der auf der Steinbank vor dem Fenster saß. Er wusste sofort, um wen es sich handelte, sprang auf und wich zurück in der Absicht, die Tür zuzuschlagen.
Beinahe wäre ihm das auch geglückt, hätte sich nicht der Stiefel des Mannes in den Türspalt geschoben. Trotzdem versuchte er noch, sie gewaltsam zuzudrücken, vergeblich. Als er einsah, dass er keine Chance mehr hatte, sich zu verbarrikadieren, rannte er los, um durch das hintere Fenster zu entkommen. Vor sich die helle, viereckige Öffnung, dahinter das dämmernde Licht, und weiter entfernt die Silhouette der Kirche. Er setzte zum Sprung an, doch draußen vor dem Fenster wartete bereits der Scherge des Polizeiwachtmeisters, der um das Haus herumgelaufen war. In der Hand die doppelläufige Flinte. Der Jungebremste vor dem Fenster ab. Die Alkoholfahne des Mannes streifte sein Gesicht. Der gleiche süßliche Geruch, den er schon mehrmals bei seinem Vater nach seinem Besuch in der Dorfschenke wahrgenommen hatte. Obwohl ihm kaum Zeit blieb, dem Mann ins Gesicht zu sehen, prägte es sich auf ewig in sein Gedächtnis ein: die orangeroten Haare, der verschwitzte, graumelierte Bart, die leeren blauen Augen und ganz besonders die fettglänzende, von einem wulstigen blauen Adergeflecht durchzogene Nase.
Er drehte sich um, in der verzweifelten Hoffnung, dass sich trotz der versperrten Fluchtwege irgendwo der Boden auftäte oder die Wände neue Türen freigäben. Stattdessen blickte er unter dem baufälligen Dach der Herberge in das altbekannte lauernde Gesicht des fein gekleideten Polizeiwachtmeisters.
»Sieh mal an, wen haben wir denn da?«
Der Polizeiwachtmeister nahm den Hut ab und strich sich mit gewohnter Geste über das Haar.
»Hast du das gesehen, Rotschopf?«
Der Scherge nickte, die Ellenbogen aufs Fensterbrett gestützt, und musterte, immer noch kopfnickend, ausgiebig den ganzen Raum. Den Deckenbalken schenkte er ebenso viel Aufmerksamkeit wie dem nackten Leichnam des Krüppels. Er inspizierte alles bis in den letzten Winkel, bevor er den Polizeiwachtmeister mit einer Kinnbewegung auf die Räucherwürste hinwies. Ohne den Blick von dem Jungen abzuwenden, riss dieser eine Wurst vom Haken und warf sie dem Rotschopf zu. Er verfehlte ihn knapp, sodass das Geschoss scheppernd gegen die zerbrochene Fensterscheibe prallte und auf den Fliesenbodenfiel. Der Mann beugte sich über das Fensterbrett nach innen und streckte sich, bis er die Wurst zu fassen bekam. Hob sie auf, wischte die daran haftenden Glassplitter mit dem Ärmel ab und zog, zufrieden auf dem harten Fleisch kauend, von dannen.
Auch der Polizeiwachtmeister ließ den Blick nun durch den gesamten Raum streifen, so als riefe der Ort alte Erinnerungen in ihm wach. Nachdem er sich eine Weile umgeschaut hatte, ging er zum hinteren Fenster. Mit den Füßen in den Glasscherben am Boden stand er eine Weile da und schaute auf die weite Ebene hinaus. Dann griff er, als drohte ein Unwetter, nach den Fensterläden, zog sie zu und schob den Riegel vor. Der Hund, der inzwischen hereingekommen war, lag zu Füßen des Jungen und schnupperte an der Urinpfütze, die sich am Boden gebildet hatte.
Kaum waren die Läden geschlossen, klopfte es draußen. Der
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