Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
Vom Netzwerk:
fügten.
    »Du hast nicht alles richtig gemacht.«
    Der Junge starrte noch immer wie versteinert vor sich hin, hypnotisiert von der Anwesenheit des Polizeiwachtmeisters und den mit ihm verbundenen Erinnerungen. Finstere Erinnerungen.
    »Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst niemandem etwas sagen?«
    »Ich habe keinem was gesagt.«
    Der Junge hob leicht den Kopf an, seine Worte einer trotzigen Klage gleich.
    »Und was ist mit dem Hirten?«
    Der Polizeiwachtmeister nagte kurz an einer Nuss, warf sie dann in die Schale zurück.
    »Ich weiß nicht, wen Sie meinen.«
    »Den Alten, mit dem du dich die letzten Tage herumgetriebenhast. Oder willst du mir etwa weismachen, du wärest allein hierhergekommen?«
    Der Junge bekam weiche Knie und brach schließlich zusammen, verzweifelt wie nie zuvor. Ängstlicher als beim ersten Mal, als sein Vater ihn in das Haus des Polizeiwachtmeisters geschleppt und ihn seiner Lüsternheit ausgeliefert hatte. Er rollte sich am Boden zusammen, und zu der Nässe, in der er lag, gesellten sich seine Tränen. Er wusste, dass das altbekannte, ewig gleiche Ritual wieder seinen Anfang nehmen würde: der Polizeiwachtmeister, der sitzend, einen Fuß aufs Knie gelegt, umständlich die Schnürsenkel seiner Stiefel aufknüpfte. Wie er sie dann akkurat einen neben dem anderen auf dem Boden abstellte. Den Stuhl zurückschob, sich erhob und das Hemd aufknöpfte. Wie er schließlich auf ihn zutrat, bis er ganz nah vor ihm stand.
    »Steh auf!«
    Zitternd stand der Junge auf und stellte sich vor ihn hin, das Kinn auf der Brust.
    »Sieh mich an!«
    Mit gekrümmtem Rücken und geballten Fäusten blieb der Junge reglos stehen.
    »Ich habe gesagt, du sollst mich ansehen.«
    Hatte der Junge sich bisher noch zusammenreißen können, brach er nun hemmungslos in Tränen aus. Der Polizeiwachtmeister strich ihm mit der Hand über das verklebte Haar. Streichelte ihm den Nacken und glitt ihm dann mit den Fingerrücken über die feuchten Wangen. Anschließend hob er die Finger zum Mund und leckte die mit Salz und Ruß vermischten Tränen des Jungen ab.
    »Schau mich an!«
    Mit einer Hand versuchte er das Kinn des Jungen hochzudrücken, doch der sträubte sich erneut.
    »Na schön. Wie du willst.«
    Er packte den Jungen an der Schulter, schob ihn zum Tisch und befahl ihm, die Hände auf die Platte zu legen. Nun schossen dem Jungen noch dickere Tränen aus den Augen, rollten ihm über die Wangen und tropften schmutzig braun in die Schale mit den Nüssen. Im flackernden Licht der Kerze warfen ihre Körper harte Schatten an Wand und Decke.
    Plötzlich erlosch die Kerze, und der Mann reagierte mit einem wütenden Schnauben. Im Dunkeln wühlte er in der Ecke und ging weiter zum Wandschrank, als er nicht fand, was er suchte. Über den Krüppel hinweggreifend, riss er ein paar Stoffstreifen vom Vorhang ab und kehrte, sie mit den Fingern zusammendrehend, zum Tisch zurück. Dort goss er Öl aus dem Krug auf den Teller und legte die Stofffetzen in die Flüssigkeit. Er tränkte die Dochte mit Öl, zwirbelte die Enden noch einmal wie einen Schnurrbart hoch. Dann zog er aus seiner Jacketttasche ein Feuerzeug hervor, zündete es an und hielt die Flamme an die aufragenden Stoffenden, bis vier knisternde Flämmchen aufloderten. Als es im Raum wieder hell wurde, starrte der Junge auf die fein säuberlich neben dem Stuhl abgestellten Stiefel und das penibel gefaltete Hemd, das über der Lehne hing. Der Polizeiwachtmeister stellte sich gerade erneut hinter ihn, als es an der Tür klopfte.
    »Verdammt, Rotschopf! Ich habe dir doch gesagt,du sollst mich in Frieden lassen! Was zum Teufel ist denn schon wieder?«
    Der Polizeiwachtmeister drehte sich zur Tür um, während seine Stimme durch den Raum dröhnte. Leise quietschend schwang die Haustür auf, bis die Flammen des kleinen Öllämpchens im hereinwehenden Luftzug zu tanzen begannen.
    Im Türrahmen tauchte die Gestalt des Hirten auf, die Flinte des Schergen in der Hand, ein erbärmlicher Anblick, mit gebeugtem Rücken, schlackernden Hosenbeinen und eingefallenem Gesicht, von Anstrengung und Elend gezeichnet. Kaum in der Lage, aufrecht zu stehen, hielt er sich am Türpfosten fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Dabei keuchte er erbärmlich.
    »Verschwinde, alter Mann!«
    Der Hirte hielt den Doppellauf der Flinte direkt auf den Kopf des Polizeiwachtmeisters gerichtet. Als er zum Sprechen ansetzte, verschluckte er sich und fing an zu husten. Ohne die Waffe zu senken, spuckte er

Weitere Kostenlose Bücher