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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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Polizeiwachtmeister stieß sie wieder auf.
    »Gibt es hier vielleicht irgendwas zu trinken, Chef?«
    Der Scherge lehnte wieder mit aufgestützten Ellenbogen im Fenster, während der Polizeiwachtmeister den Raum durchsuchte. Neugierig musterte der Scherge den Jungen von oben bis unten, als ahnte er, was ihm blühte. Schließlich kam der Polizeiwachtmeister zurück und reichte ihm eine schwere, mit Bast umwickelte Weinflasche.
    »Jetzt mach, dass du fortkommst! Stör mich nicht länger!«
    Der Rothaarige warf den Korken durch die Fensteröffnung in den Raum hinein. Dann packte er die Flaschemit zwei Fingern am Korbgriff, hievte sie sich auf den Unterarm, setzte sie an den Mund und trank gierig. Der Polizeiwachtmeister sah ihn schräg von der Seite an und verzog ungehalten das Gesicht.
    »Übertreib es nicht mit dem Wein! Morgen früh hast du noch eine Menge zu erledigen.«
    Der Scherge ließ die Flasche sinken und grinste den Polizeiwachtmeister hämisch an. Die Augen halb geschlossen und feucht. Sein leerer Blick verlor sich irgendwo im Raum, bevor er sich laut rülpsend umdrehte und davonstapfte.
    »Verdammter Säufer«, brummte der Polizeiwachtmeister, während er die Fensterläden wieder schloss, den Riegel davorschob und daran rüttelte, um zu überprüfen, ob er hielt. Dann spähte er ein letztes Mal durch eine der Rhomben hindurch, bevor er sich mit den Stiefeln in dem Haufen knirschender Glasscherben zum Raum hin umdrehte. Er musterte den vor Angst erstarrten Jungen von Kopf bis Fuß, als betrachtete er einen Leckerbissen.
    »Nur keine Angst, mein Kleiner. Es wird dir nichts geschehen. Zumindest nichts Neues«, fügte er grinsend hinzu.
    Gemächlich kam er quer durch den Raum auf den Jungen zu. Blieb vor ihm stehen und beugte sich zu dem Hund hinab, hob die Leine auf und führte ihn hinaus. Draußen entfernte sich der Scherge auf der Straße in Richtung Dorfausgang, in einer Hand die Flinte, in der anderen die Weinflasche. Der Polizeiwachtmeister schloss die Tür und verriegelte auch die vorderen Fensterläden, sodass der Raum völlig im Dunkeln lag. Der Junge hörtenur noch, wie der Mann sich irgendwo bewegte. Dann das Klicken des Feuerzeugs in einer Ecke, als der Polizeiwachtmeister eine lange Kerze anzündete. Er durchsuchte schließlich die gesamte Bleibe und trug alles zusammen, wonach ihm der Sinn stand. Auf dem Tisch landeten Speck, Paprikawurst, Schinken und eine Ölflasche. Einen Krug gefüllt mit Wein aus dem Fass stellte er ebenfalls auf den Tisch. Als er sich einen Blechteller und ein Glas aus dem Wandschrank nahm, schob er den Arm des toten Krüppels mit dem Stiefel beiseite.
    Sobald der Tisch gedeckt war, zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich, um zu Abend zu speisen, als sei er allein. Er schnitt die Paprikawurst fein säuberlich in Scheiben und belegte damit das trockene Brot auf seinem Teller. Immer wieder weichte er sich die harten Brotstücke mit ein paar Spritzern Öl ein.
    Während der Mann genüsslich aß, stand der Junge reglos da. Die nassen Stiefel, die verdreckte Haut, der Essensgeruch, das Ende seines kühnen Wagemuts. Ohne zu weinen, nahm er die Folterqualen, die er würde ertragen müssen, als gegeben hin. Eine Hölle, durch die er schon oft gegangen war. Ihm war es egal, ob der Polizeiwachtmeister ihn gleich danach hier töten oder ins Dorf zurückbringen wollte. Sein Schicksal war längst besiegelt, und das des Hirten ebenso.
    Bis der Polizeiwachtmeister sich satt gegessen hatte, war das Licht hinter den Rhomben an den Fenstern ganz verschwunden. Er schob die Essensreste mit dem Unterarm beiseite und stand auf. Griff in den Sack voller Nüsse, der an der Wand stand, und verstreute eine Handvoll aufder Tischplatte. Er knackte eine Nuss nach der anderen mit dem Taschenmesser, das er auch zum Essen benutzt hatte. Bohrte die Messerspitze von unten in den Spalt zwischen den beiden Schalenhälften und drehte sie so lange, bis die Nuss aufsprang. Löste mit seinen dicken Fingern die essbaren Teile heraus und warf sie in eine Holzschale. Die Pfütze zu den Füßen des Jungen versickerte allmählich in den Mörtelrissen zwischen den Fliesen, aber die Hosenbeine waren noch nass, und seine Waden wurden allmählich taub.
    »Es ist wichtig, immer alles richtig zu machen.«
    Während der Polizeiwachtmeister sprach, hielt er in jeder Hand eine Nusshälfte. Er nahm sie zwischen zwei Finger und setzte sie so zusammen, dass sie sich wie zwei Gehirnhälften zu einem perfekten Ganzen

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