Die Flucht
Manchee. »Messer, Todd?«
» Na los, mach schon, Todd «, sagt Aaron, und ich schwöre, ich rieche seinen Schweiß. »Beschreite den Pfad von der Unschuld zur Sünde, wenn du dazu in der Lage bist.«
»Ich hab’s schon getan«, entgegne ich. »Ich habe bereits getötet.«
»Einen Spackle zu töten ist etwas anderes, als einen Menschen zu töten« , sagt er und grinst über meine Dummheit. »Spackle sind Teufel, die hierhergesandt wurden, um uns zu versuchen. Einen von ihnen zu töten ist, als ob man eine Schildkröte tötet.« Er reißt die Augen auf. »Aber nicht einmal das kannst du, habe ich Recht?«
Ich packe das Messer ganz fest, stoße ein tiefes Knurren aus, und wieder dreht sich alles um mich herum.
Aber ich lasse das Messer nicht fallen.
Ich höre ein gurgelndes Geräusch. Blutiger Schleim trieftaus dem Loch in Aarons Gesicht, und ich begreife, dass er lacht.
»Es hat sehr, sehr lange gedauert, bis sie tot war« , flüstert er.
Und ich schreie auf vor Schmerz.
Und ich hebe das Messer höher.
Und ich richte es auf sein Herz.
Und er grinst noch immer.
Und ich steche zu.
Und ich bohre es mitten durch Violas Brust.
»Nein!«, schreie ich im selben Moment, aber es ist schon zu spät.
Sie blickt auf das Messer und dann zu mir. Ihr Gesicht ist schmerzverzerrt, wirrer Lärm dringt aus ihr wie aus dem Spackle, den ich ...
(den ich getötet habe.)
Sie sieht mich an mit Tränen in den Augen, sie öffnet den Mund und sagt: » Mörder. «
Als ich meine Hand nach ihr ausstrecken will, ist sie verschwunden, an ihrer Stelle ist nur noch ein Schimmern.
Aber das Messer, an dem kein Blut mehr klebt, halte ich noch immer in der Hand.
Ich falle auf die Knie, dann stürze ich vornüber und liege auf dem Boden, liege mitten zwischen den niedergebrannten Häusern, huste und weine und winsle, und die Welt um mich herum löst sich auf, so sehr, dass ich glaube, es gibt keinen festen Platz mehr auf ihr.
Ich bringe es nicht fertig, ihn zu töten.
Ich will es ja. Ich wünsche mir nichts sehnlicher. Aber ich bringe es nicht fertig.
Denn sonst wäre ich nicht der, der ich bin. Denn sonst würde ich sie verlieren.
Ich kann es nicht. Ich kann es nicht, ich kann es nicht, ich kann es nicht.
Ich überlasse mich diesem Schimmern, verliere mich darin.
Es ist der gute, alte Manchee, der treueste aller Freunde, der mir übers Gesicht leckt und mich aufweckt. In seinem Lärm und in seinem Winseln murmelt er voller Angst ein einziges Wort.
»Aaron«, jault er, leise und drängend. »Aaron.«
»Hör auf damit, Manchee.«
»Aaron«, winselt er und hört nicht auf, mich zu lecken. »Er ist gar nicht da«, sage ich und versuche, mich aufzusetzen. »Es ist nur so etwas wie ...«
Es ist nur etwas, was Manchee nicht sehen kann.
»Wo ist er?« Ich stehe viel zu schnell auf, um mich herum färbt es sich hellrosa und orange, und zugleich taumle ich vor dem, was ich jetzt sehe, zurück.
Ich sehe hundert Aarons an hundert verschiedenen Orten. Ich sehe Violas, verängstigt, mich um Hilfe anflehend, ich sehe Spackle, denen mein Messer in der Brust steckt, und sie alle reden auf mich ein, ihre Stimmen schwellen an zu einem einzigen, abscheulichen Chor.
»Feigling«, sagen sie alle. »Feigling.« Immer und immer wieder.
Aber ich wäre kein Junge aus Prentisstown, wenn ich den Lärm nicht einfach überhören könnte.
»Wo, Manchee ?« Ich stehe auf, versuche nicht hinzusehen, weil alles schwankt und rutscht.
»Dorthin«, bellt er. »Den Fluss hinunter.«
Ich folge ihm durch die abgebrannte Siedlung.
Er führt mich vorbei an dem, was einmal die Kirche gewesen sein muss, aber ich sehe nicht hin, dann flitzt er eine Anhöhe hinauf, der Wind heult jetzt stärker, und die Bäume biegen sich. Das kann ich mir doch nicht nur einbilden, denn Manchee muss sogar lauter bellen, damit ich ihn verstehe.
»Aaron!« Er hält die Nase in die Luft. »Gegen den Wind.«
Auf dem kleinen Hügel kann ich zwischen den Bäumen hindurch zum Fluss hinuntersehen. Ich sehe tausend Violas, die mich voller Angst anstarren.
Ich sehe tausend Aarons, die mich Feigling nennen, mit dem schlimmsten Grinsen im Gesicht, das man sich nur vorstellen kann.
Und hinter ihnen, in einem Lager am Ufer des Flusses, sehe ich einen Aaron, der sich ganz und gar nicht nach mir umschaut.
Ich sehe einen Aaron, der sich zum Gebet niederkniet.
Und ich sehe Viola, die vor ihm auf dem Boden liegt.
»Aaron«, bellt
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