Die Flucht
Manchee.
»Aaron«, sage ich. Feigling.
30
Ein Junge namens Todd
»Was machen wir jetzt?« , fragt der Junge und kriecht an meine Schulter.
Ich hebe den Kopf und lasse das kalte Wasser über meinen Rücken laufen. Ich bin von der kleinen Anhöhe gestiegen, habe mich durch Menschenmassen hindurchgeboxt, die mich alle einen Feigling nannten, bin zum Ufer gegangen und habe meinen Kopf ins Wasser getaucht. Jetzt zittere ich heftig, so kalt ist es, aber das eisige Wasser hat die kullernde Welt angehalten. Ich weiß, es wird nicht lange so bleiben, das Fieber und die Infektion mit dem Spackle-Blut werden den Sieg davontragen, aber zuerst einmal muss ich alles so klar und deutlich sehen wie möglich.
» Wie kommen wir zu ihnen hin ? « , fragt der Junge, der jetzt an meine andere Seite getreten ist. » Er wird unseren Lärm hören. «
Das Zittern macht, dass ich husten muss, alles macht, dass ich husten muss, ich spucke grünen Schleim, aber dann halte ich die Luft an und tauche wieder unter.
Das kalte Wasser presst meinen Kopf wie in einem Schraubstock zusammen, aber ich lasse ihn trotzdem unten. Ich höre, wie es gurgelt und rauscht, ich höre das wortlose Bellen eines kummervollen Hundes, der um meine Füße springt. Ich spüre,wie sich der Verband um meine Stirn löst und von der Strömung mitgerissen wird. Mir fällt Manchee ein, der an einer anderen Stelle im Fluss die Bandage an seinem Schwanz abgestreift hat, und ich vergesse, dass ich meinen Kopf unter Wasser halte, und fange an zu lachen.
Ich tauche wieder auf, würge, schnappe nach Luft und huste noch mehr.
Ich öffne die Augen. Die Welt glitzert, wie sie es eigentlich gar nicht dürfte, und am Himmel stehen Sterne aller Art, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen ist, aber wenigstens schwankt der Boden nicht mehr unter mir, und die vielen Aarons und Violas und Spackle sind verschwunden.
»Werden wir es wirklich alleine schaffen?« , fragt der Junge.
»Uns bleibt nichts anderes übrig«, sage ich zu mir selbst.
Und ich drehe mich um und schaue ihn an.
Er hat einen Rucksack auf den Schultern, ein braunes Hemd so wie ich, ein Buch in der rechten und ein Messer in der linken Hand. Ich zittere immer noch vor Kälte. Es kostet mich Mühe, aufrecht zu stehen, aber ich atme und huste und zittere und starre ihn an.
»Komm mit, Manchee«, sage ich, dann mache ich mich auf den Weg durch die verlassene Siedlung zurück zur Anhöhe. Es fällt mir schwer, auch nur zu gehen, der Boden kann jeden Augenblick unter mir einbrechen, denn ich bin schwerer als ein Berg, aber leichter als eine Feder. Ich laufe weiter, bis zur Anhöhe, erklimme sie, klammere mich an Ästen fest, ziehe mich daran hoch, lehne mich gegen einen Baumstamm und schaue mich um.
» Ist er es tatsächlich? «, fragt der Junge hinter mir. Ich spähe zwischen den Bäumen hindurch zum Fluss hinunter.
Und da ist noch immer das Lager, es liegt immer noch am Ufer, aber es ist so weit weg, dass ich nicht viel mehr als kleine Pünktchen sehe. Ich krame Violas Fernglas hervor, halte es vor die Augen, aber ich zittre so sehr, dass ich fast nichts sehe. Sie sind weit genug entfernt, dass der Wind seinen Lärm verschluckt, aber ich bin mir sicher, dass ich ihre Stille bis hier oben spüre.
Ich bin mir ganz sicher.
»Aaron«, sagt Manchee. Und: »Viola.«
Ich weiß jetzt, dass es keine Einbildung ist, und trotz meines Zitterns sehe ich, wie er sich hinkniet, ein Gebet spricht, während Viola auf dem Boden vor ihm liegt.
Ich habe keine Ahnung, was passiert, keine Ahnung, was er vorhat. Aber er ist es, ohne jeden Zweifel.
All das viele Laufen und Herumstolpern und Husten und Sterben, und nun sind sie es wirklich, bei Gott, sie sind es wirklich.
Also ist es doch noch nicht zu spät. Und wie sich meine Brust hebt und meine Kehle eng wird, begreife ich auf einmal, welch große Angst ich bis zu dieser Sekunde vor dem Zuspätkommen hatte.
Ich komme nicht zu spät. Vornübergebeugt stehe ich da (halt bloß die Klappe) und weine, ich weine und weine, aber das muss aufhören, ich muss mir etwas ausdenken, ich muss mir etwas einfallen lassen, es hängt ganz allein von mir ab, ich muss einen Ausweg finden, ich muss sie retten, ich muss sie retten ...
» Was sollen wir tun? «, fragt der Junge. Er steht ein paar Schritte von mir entfernt, in einer Hand das Buch, in der andern das Messer.
Ich presse die Handflächen gegen die Augen und reibe sie, versuche an nichts anderes zu denken, mich zu konzentrieren,
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