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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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warm und müde und erleichtert und immer noch ein bisschen besorgt, aber ich denke: Vielleicht hat sie Recht, vielleicht siegen wir, vielleicht sollte ich den Arm um sie legen, wenn ich mir dabei nicht komisch vorkomme, aber ich glaube, das wäre genau das Richtige, denn ich bin wirklich ihrer Meinung.
    »Wir schlagen sie«, sage ich.
    Und dann ist sie es, die die Arme um mich schlingt und mich an sich drückt, dass wir beinahe hinfallen, und wir stehen einfach auf dem glitschigen Berghang und atmen ein bisschen.
    Sie riecht nicht mehr ganz so sehr nach Blumen, aber das macht nichts.
    Ich schaue mich um. Unter uns der schäumende Wasserfall, vor uns Haven, das durch den sonnendurchfluteten Nebel schimmert, und hinter uns spiegelt sich der obere Flusslauf im hellen Licht, das ihn erglänzen lässt wie eine Schlange aus glühendem Metall.
    Ich erlaube kleinen Fünkchen von Glück, sich in meinen Lärm zu mischen, und ich lasse meinen Blick den ganzen Fluss entlangwandern und ...
    Nein.
    Jeder Muskel in mir spannt sich.
    »Was ist?«, fragt Viola misstrauisch.
    Ihr Blick schnellt in die Richtung, in die auch ich schaue. »Was?«, fragt sie wieder.
    Und dann sieht sie es.
    »Nein«, stöhnt sie. »Nein, das darf nicht sein.«
    Ein Boot kommt den Fluss herab.
    Man braucht kein Fernglas, um es zu sehen.
    Es ist nahe genug, um das Gewehr und die Robe zu erkennen.
    Nahe genug, um die Narben und die selbstgerechte Wut zu sehen.
    Mit wilden Schlägen rudert er auf uns zu.
    Die Rache in Person.
    Aaron.

40
    Das Opfer
    »Hat er uns gesehen?«, fragt Viola voller Anspannung.
    Ich richte das Fernglas aus. Aaron drängt sich ins Bild, gewaltig und Furcht einflößend. Ich drücke mehrere Knöpfe und lasse ihn kleiner erscheinen. Er blickt nicht in unsere Richtung, sondern rudert wie eine Maschine, um das Boot ans Ufer zu steuern.
    Sein Gesicht ist völlig zerstört, es sieht schrecklich aus, dreckverklebt, blutverschmiert, mit dem Loch in der Wange und einem zweiten, wo früher seine Nase gewesen ist. Trotzdem ist sein Blick wild und gierig und ohne Erbarmen, es ist ein Blick, der sich nie, nie ändern wird.
    Wie hat Ben gesagt? Der Krieg verwandelt Menschen in Ungeheuer.
    Ein Ungeheuer kommt auf uns zu.
    »Ich glaube nicht, dass er uns gesehen hat«, sage ich. »Noch nicht.«
    »Können wir ihn abhängen?«, fragt Viola.
    »Er hat ein Gewehr«, antworte ich, »und von hier bis nach Haven kann man die ganze Straße überblicken.«
    »Dann halten wir uns eben abseits der Straße und gehen durch den Wald.«
    »Es gibt da nicht viel Wald. Wir müssen sehr schnell sein.«
    »Ich kann schnell sein«, sagt sie.
    Wir schlittern den Hügel hinunter, über Sträucher, Gras und nasse Ranken, und halten uns, so gut es geht, an Felsbrocken fest. Der Baumwuchs ist spärlich, wir können bis zum Fluss hinuntersehen, wo Aaron rudert.
    Wenn er in die richtige Richtung schaut, kann er uns ebenfalls sehen.
    »Beeil dich!«, sagt Viola.
    Nach unten.
    Weiter nach unten.
    Wir stolpern und rutschen.
    Wir waten durch den Schlamm am Wegrand.
    Als wir die Straße wieder erreichen, haben wir ihn aus den Augen verloren.
    Aber nur für einen kurzen Augenblick.
    Denn da ist er wieder.
    Die Strömung treibt ihn schnell ...
    Er kommt den Fluss herab.
    Deutlich zu sehen.
    Er schaut genau in unsere Richtung.
    Das Donnern des Wasserfalls ist so laut, es verschlingt alles, aber ich höre es trotzdem.
    Ich würde es selbst dann hören, wenn ich auf der anderen Seite dieses Planeten wäre.
    »Todd Hewitt!«
    Er greift nach seiner Waffe.
    »Lauf!«, schreie ich.
    Viola läuft, was sie kann, und ich bin dicht hinter ihr. Wir müssen es bis zu der Stelle schaffen, von wo aus die Straße im Zickzack nach unten führt.
    Es sind noch fünfzehn Schritte, vielleicht zwanzig, dann sind wir hinter der Kuppe verschwunden.
    Wir rennen, als hätten wir uns zwei Wochen lang nur ausgeruht.
    Unsere Füße trommeln, trommeln, trommeln.
    Ich schaue über die Schulter zurück.
    Und sehe Aaron, wie er versucht, das Gewehr mit einer Hand zu fassen.
    Wie er versucht, sein Gleichgewicht zu halten und das Boot nicht kentern zu lassen.
    Es tanzt auf den Stromschnellen, es wirft ihn hin und her. »Er kann das nicht«, rufe ich. »Er kann nicht rudern und schießen zur gleichen Zeit ...«
    Peng!
    Schlamm spritzt dicht neben Violas Füßen auf und direkt vor mir.
    Ich schreie und Viola schreit und wir ducken uns, ohne nachzudenken.
    Schneller und schneller.
    Trommel, trommel, trommel ...
    Lauf,

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