Die Flucht
Waffe, starrt erst mich an, danach Hildy, und sein Lärm pocht wie eine Wunde.
Dann verzerrt sich sein Gesicht.
Und dann fängt er doch tatsächlich an zu weinen.
Bemüht, die Tränen zu unterdrücken, grollend, stark wie ein Bulle, die Machete in der Hand, steht er da und weint. Und das ist so ziemlich das Letzte, was ich erwartet habe. »Steck das Messer weg, Todd«, sagt Hildy leise zu mir. Matthew lässt das Buschmesser fallen. Er fährt sich mit dem Arm über die Augen und schnieft und schluchzt und stöhnt.
Ich schaue zu Viola. Sie starrt Matthew an, vermutlich ist sie genauso ratlos wie ich.
Ich lasse den Arm sinken, halte das Messer aber fest umklammert. Ich lasse es nicht los, noch nicht.
Matthew holt tief Luft, Schmerz und Trauer tropfen aus seinem Lärm und auch Wut darüber, dass er vor allen anderen die Selbstbeherrschung verloren hat. »Ich dachte, es ist vorbei«, keucht er. »Lange vorbei.«
»Ich weiß«, erwidert Hildy und legt die Hand auf seinen Arm.
»Was geht hier vor?«, frage ich.
»Das braucht dich nicht zu kümmern, Kleiner«, sagt Hildy. »Prentisstown hat eine traurige Geschichte.«
»Das hat Tam auch schon gesagt«, erwidere ich. »Als ob ich das nicht selbst wüsste.«
Matthew sieht mich an. »Du weißt gar nichts, Kleiner«, sagt er mit zusammengebissenen Zähnen.
»Das reicht«, erklärt Hildy. »Der Junge ist nicht dein Feind.« Und mit strengem Blick fügt sie hinzu: »Und aus genau diesem Grund legt er jetzt sein Messer weg.«
Ich drehe das Messer in der Hand hin und her, aber schließlich stecke ich es doch in die Scheide zurück. Matthew beäugt mich finster, aber er tritt ganz eindeutig den Rückzug an, und ich frage mich, wer Hildy ist, dass er ihr gehorcht.
»Sie sind beide unschuldige Lämmchen, Matthew«, sagt Hildy.
»Keiner ist unschuldig«, erwidert Matthew bitter und schnieft noch einmal kräftig, ehe er die Machete aufhebt. »Keiner.«
Dann geht er, ohne sich noch ein einziges Mal umzudrehen, in den Obstgarten zurück.
Alle anderen rühren sich nicht vom Fleck und starren uns an.
»Wenn ihr weiter so rumsteht, ist der Tag bald vorbei.«Hildy dreht sich im Kreis und mustert einen nach dem anderen. »Später ist noch genug Zeit, um einander näher kennenzulernen, wohl wahr.«
Viola und ich sehen zu, wie die Leute zu den Bäumen und den Obstkörben oder was auch immer zurückkehren. Manche lassen uns trotzdem nicht aus den Augen, die meisten jedoch wenden sich ihrer Arbeit zu.
»Hast du hier das Sagen oder so?«, frage ich.
»Oder so, Frischling, oder so. Komm, du hast die Stadt ja noch gar nicht richtig gesehen.«
»Von welchem Gesetz hat er gesprochen?«
»Das ist eine lange Geschichte, mein Junge«, sagt sie. »Ich erzähle sie dir später.«
Der Weg windet sich durch die Obstgärten talwärts. Er ist breit genug, dass Menschen mit ihren Fahrzeugen und Pferden Platz haben, wobei ich jedoch ausschließlich Leute zu Fuß sehe.
»Was für eine Frucht ist das?«, fragt Viola, als zwei Frauen vor uns mit prall gefüllten Körben die Straße überqueren und uns dabei Blicke zuwerfen.
»Pinienzapfen«, erklärt Hildy. »Zuckersüß, viele Vitamine.« »Die kenne ich ja gar nicht«, sage ich.
»Nein«, sagt Hildy. »Woher auch?«
Mein Blick schweift über Baumreihen, die viel zu zahlreich sind für eine kleine Ortschaft mit kaum mehr als fünfzig Einwohnern, wie ich vermute. »Esst ihr das alles selbst?«
»Natürlich nicht«, sagt Hildy. »Wir treiben Handel mit anderen Orten.«
Die Verblüffung ist so deutlich aus meinem Lärm herauszulesen, dass Viola ein wenig lachen muss.
»Dachtest du etwa, es gibt nur zwei Siedlungen in New World?«, fragt Hildy.
»Nein«, antworte ich und spüre, wie ich rot werde. »Aber die anderen wurden im Krieg dem Erdboden gleichgemacht.«
»Hm«, brummt Hildy und beißt sich auf die Unterlippe. Sie nickt, sagt aber kein Wort mehr.
»Hast du von Haven gesprochen?«, fragt Viola leise. »Haven was?«, frage ich.
»Die andere Siedlung«, sagt Viola, ohne mich anzuschauen. »Hildy hat gesagt, in Haven könnte es ein Heilmittel gegen den Lärmbazillus geben.«
»Ach«, seufzt Hildy. »Das sind nur Gerüchte und Vermutungen.«
»Haven gibt es also wirklich?«, frage ich.
»Es ist die größte und älteste Siedlung von allen«, erklärt Hildy. »Fast so etwas wie eine Großstadt in New World. Meilen von hier entfernt. Nichts für einfache Bauern wie uns.«
»Die kenne ich ja gar nicht«, sage ich wieder.
Keiner
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