Die Flucht
etwas rötlicher. »Kümmere dich nicht darum, was in meinem Buch steht. Das geht nur mich etwas an.«
»Erinnerst du dich, als du mir im Wald die Landkarte gezeigt hast?«, fährt sie ungerührt fort. »Du sagtest, wir müssten zu dieser Siedlung gehen. Weißt du noch, was unter der Karte geschrieben stand?«
»Klar weiß ich das.«
»Und was war es ?«
Da ist zwar kein offener Spott in ihrer Frage, zumindest höre ich keinen, aber was soll es denn sonst sein? Was anderes sollte sie tun, außer sich über mich lustig machen?
»Schlaf einfach, okay?«, sage ich.
»Es war Farbranch«, erwidert sie. »Das war der Name der Siedlung, zu der wir gehen sollen.«
»Halt doch die Klappe.« Mein Lärm fängt wieder an zu schwirren.
»Es ist doch nichts dabei, wenn man nicht ...«
»Ich habe gesagt, du sollst die Klappe halten!«
»Ich könnte dir helfen ...«
Mit einem Satz springe ich auf und stoße Manchee von der Schlafbank, dass er auf den Boden plumpst. Ich klemme das Laken und die Decke unter den Arm, stapfe wütend in den Raum, in dem wir gegessen haben, werfe das Bettzeug auf den Boden und lege mich hin, möglichst weit weg von Viola und ihrer nichtssagenden, üblen Stille.
Manchee bleibt bei Viola im Zimmer. Typisch.
Ich schließe die Augen, doch ich kann um nichts in der Welt einschlafen.
Bis ich dann doch irgendwie einschlafe.
Denn ich laufe einen Pfad entlang, ich bin im Sumpf, aber gleichzeitig bin ich auch in Prentisstown und unsere Farm ist auch da und Ben und Cillian und Viola, und sie fragen mich: »Was machst du hier, Todd?«, und Manchee bellt: »Todd! Todd!« Und Ben packt mich am Arm und zieht mich zur Tür hinaus, und Cillian hat den Arm um meine Schulter gelegt und schiebt mich fort, und Viola stellt das Feuerkästchen an unsere Haustür, und das Pferd des Bürgermeisters stampft geradewegs hindurch und tritt sie platt, und hinter Bens Rücken bäumt sich ein Krokodil auf, das Aarons Gesicht hat, und ich schreie: »Nein!« Und ...
... und ich richte mich auf und bin schweißgebadet. Mein Herz rast wie ein galoppierendes Pferd, und ich erwarte jeden Augenblick, dass der Bürgermeister und Aaron sich über mich beugen.
Aber es ist nur Hildy. Sie steht an der Tür und sagt: »Was zum Teufel machst du hier drinnen?« Die Morgensonnestrahlt hinter ihr so hell, dass ich mir die Hände vor die Augen halten muss, um nicht geblendet zu werden.
»Bequemer hier«, murmle ich, aber mein Herz hämmert. »Darauf wette ich«, sagt sie und liest meinen soeben erwachenden Lärm. »Frühstück wartet.«
Der Geruch nach gebratenem Hammelspeck weckt auch Viola und Manchee auf. Ich lasse Manchee hinaus, damit er seinen morgendlichen Haufen machen kann, aber Viola und ich schweigen einander an. Während wir essen, gesellt sich Tam zu uns, er kommt von draußen, wo er vermutlich die Schafe gefüttert hat. Genau das Gleiche würde ich jetzt auch tun, wenn ich zu Hause wäre.
Zu Hause, denke ich. Was soll’s.
»Halt dich ran, Kleiner«, sagt Tam und stellt geräuschvoll eine Tasse Kaffee vor mich hin. Mit gesenktem Kopf trinke ich davon.
»Ist da draußen jemand?«, murmele ich in meine Tasse. »Nicht das leiseste Flüstern«, antwortet Tam. »Und es ist ein wunderschöner Tag.«
Ich blicke zu Viola hinüber, aber sie beachtet mich nicht. Ja, wirklich, während wir essen, uns die Gesichter waschen, uns umziehen und die Taschen neu packen, spricht keiner ein Wort mit dem anderen.
»Viel Glück, ihr beiden«, sagt Tam, als wir im Begriff sind, mit Hildy nach Farbranch aufzubrechen. »Wohl wahr, es ist immer schön, wenn zwei Menschen, die ganz allein sind, Freunde werden.«
Auch darauf erwidern wir nichts.
»Kommt schon, ihr Frischlinge«, drängt Hildy, »wir vergeuden unsere Zeit.«
Wir gehen den Pfad zurück, der nach kurzer Zeit auf die Straße stößt, die vermutlich zur Brücke geführt hat.
»Das war einmal die Hauptverbindungsstraße von Farbranch nach Prentisstown«, sagt Hildy, die ein kleines Bündel bei sich trägt. »Oder auch New Elizabeth, wie es damals hieß.«
»Wie was damals hieß?«, frage ich.
»Prentisstown«, erklärt sie.
»So hieß es nie«, sage ich mit hochgezogenen Augenbrauen. Hildy blickt mich an und ihre hochgezogenen Augenbrauen machen sich über meine lustig. »Ach nein? Dann muss ich mich täuschen.«
»Scheint so«, sage ich.
Viola schnaubt spöttisch. Ich werfe ihr einen Blick zu, der töten könnte.
»Gibt es dort jemanden, bei dem wir unterkommen können?«,
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