Die Flucht
fragt sie Hildy, ohne mich zu beachten.
»Ich bringe euch zu meiner Schwester«, sagt Hildy. »Dieses Jahr ist sie die stellvertretende Bürgermeisterin, müsst ihr wissen.«
»Und was machen wir dort?«, frage ich und wirble mit den Fußspitzen Staub auf.
»Schätze, das hängt von euch ab«, sagt Hildy. »Ihr habt euer Schicksal selbst in der Hand.«
»Bis jetzt nicht«, höre ich Viola leise sagen, und das sind genau dieselben Worte, die auch in meinem Lärm herumschwirren, sodass wir beide aufschauen und unsere Blicke sich treffen.
Beinahe hätten wir gelächelt. Aber wir tun’s nicht. Im selben Augenblick hören wir den Lärm.
»Ah«, sagt Hildy, die ihn ebenfalls hört. »Das ist Farbranch.«
Die Straße führt eine Anhöhe hinauf, von der man in ein kleines Tal schauen kann.
Und da liegt sie.
Die andere Siedlung. Die andere Siedlung, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.
Der Ort, zu dem Ben uns geschickt hat. Und wo wir vielleicht in Sicherheit sind.
Das Erste, was ich auf dem Weg, der sich durch Obstgärten ins Tal schlängelt, sehe, sind schnurgerade Baumreihen, durchzogen von Fußwegen und Bewässerungsanlagen. Sie erstrecken sich bis zu den Gebäuden am Fuße des Tals, bis zu einem Bach, der flach und gemächlich dahinplätschert, um dann irgendwo in einen größeren Fluss zu münden.
Und überall sind Männer und Frauen.
Die meisten haben sich in den Obstgärten verteilt, sie tragen grobe Arbeitskittel, die Männer Hemden mit langen Ärmeln, die Frauen lange Kleider. Mit großen Messern schneiden sie eine Art Pinienfrucht, tragen sie in Körben davon, oder sie sind mit den Bewässerungsrohren beschäftigt.
Männer und Frauen, Frauen und Männer.
Grob geschätzt sind es ein paar Dutzend Männer, weniger als in Prentisstown.
Wer weiß, wie viele Frauen es sind?
An einem Ort, der ganz anders ist als Prentisstown.
Ihr Lärm (und ihre Stille) zieht wie eine Nebelwolke zu uns herauf.
Zwei bitte und Meiner Meinung nach und Unkrauthaufen und Vielleicht sagt sie Ja, vielleicht auch nicht und Wenn der Gottesdienst um eins zu Ende ist, dann kann ich immer noch und so weiter und so weiter, ohne Ende, Amen.
Ich bleibe einen Augenblick lang auf der Straße stehen und schaue nur, denn ich bin noch nicht bereit hinunterzugehen. Es ist seltsam.
Um ehrlich zu sein, es ist mehr als nur seltsam.
Es ist so, ich weiß auch nicht, so ruhig. Es hört sich an wie ein normaler Schwatz, den man mit Freunden hält. Da ist nichts Böses oder Beleidigendes.
Und alle scheinen zufrieden zu sein.
Nirgendwo findet sich diese schreckliche, Angst einflößende, verzweifelte Sehnsucht, so weit ich hören und fühlen kann.
»Teufel noch mal, hier ist es ganz bestimmt nicht wie in Prentisstown«, sage ich halblaut zu Manchee.
Keine Sekunde später höre ich, wie der Lärm vom Feld nebenan zu uns herüberdringt: Prentisstown?
Und dann höre ich den Namen an ganz verschiedenen Orten. Prentisstown? und Prentisstown? und dann sehe ich, dass die Männer in den umliegenden Gärten aufgehört haben, Obst oder was auch immer einzusammeln. Sie stehen auf. Sie schauen uns an.
»Kommt weiter«, sagt Hildy. »Lauft einfach weiter. Das ist nur Neugierde.«
Das Wort Prentisstown breitet sich wie ein Lauffeuer über die Felder aus. Manchee drückt sich dichter an meine Beine. Während wir weitergehen, starrt man uns von allen Seiten an. Sogar Viola rückt ein wenig näher heran, sodass wir ein kleines Grüppchen bilden.
»Nichts, worüber man sich Gedanken machen müsste«,versichert Hildy. »Hier gibt es jede Menge Leute, die euch kennenlernen ...«
Sie bricht mitten im Satz ab.
Ein Mann hat sich uns in den Weg gestellt.
Seiner Miene nach zu urteilen, will er alles andere, als uns kennenlernen.
»Prentisstown?«, sagt er und sein Lärm wird unangenehm rot, unangenehm schnell.
»Morgen, Matthew«, sagt Hildy. »Ich bringe euch ...« »Prentisstown«, unterbricht der Mann sie, und diesmal ist es keine Frage, und er sieht auch nicht mehr Hildy an. Sondern mich.
»Du bist hier nicht willkommen«, sagt er. »Ganz und gar nicht willkommen.«
Und in der Hand hält er die größte Machete, die ich je gesehen habe.
17
Begegnung im Obstgarten
Meine Hand tastet nach hinten zu meinem Messer.
»Lass es sein, Todd, mein Junge«, sagt Hildy, den Blick unverwandt auf den Mann gerichtet. »So geht das nicht.«
»Was bringst du uns da, Hildy?«, sagt der Mann, die Machete in der Hand wiegend. Er starrt mich an und in seiner
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