Die Flucht
nichts daran ändert, dass ich meine Zweifel habe, ob dieser Plan richtig war.
Viola verschränkt die Arme so wie Francia und zugleich ganz anders als sie. »Ich weiß, was du meinst.«
»Fürs Erste ist es also wohl in Ordnung so.«
»Ja«, stimmt Viola mir zu. »Fürs Erste.«
Wieder lauschen wir der Auseinandersetzung.
»Was du da vorhin getan hast ...«, fängt Viola an.
»Das war dumm«, unterbreche ich sie rasch. »Ich will nicht darüber reden.«
Mein Gesicht fängt an zu brennen und ich ziehe mich eilig in mein Zimmer zurück.
Ich stehe da und kaue auf meiner Lippe herum. Der Raumsieht aus, als habe ein alter Mensch hier gewohnt. Irgendwie riecht es auch so, aber wenigstens gibt es ein richtiges Bett. Ich schnüre meinen Rucksack auf.
Ich schaue mich um, ob mir jemand gefolgt ist, dann ziehe ich das Buch hervor und betrachte die Landkarte, die Pfeile mitten durch den Sumpf bis zum Fluss und auf die andere Seite hinüber. Eine Brücke ist nicht eingezeichnet, aber die Siedlung ist markiert. Und darunter steht ein Wort.
»Farr...«, fange ich an zu lesen. »Farrr-bran-sch.«
Was wohl Farbranch heißen soll.
Mit einem lauten Schnauben mache ich mich daran, die Rückseite zu lesen. »Du musst sie warnen« (natürlich, ganz klar, also halt die Klappe). Der Satz steht unten auf der Rückseite, dick unterstrichen. Aber, wie Viola schon sagte, die Frage ist: Wen soll ich warnen? Farbranch? Hildy?
»Und weshalb?«, überlege ich laut. Ich blättere das Buch durch, da sind Seiten voll mit allem möglichen Zeug, Seiten über Seiten, Wörter über Wörter über Wörter über Wörter, wie zu Papier gebrachter Lärm, unverständlich und wirr. Wie soll ich da jemanden warnen?
»Ach, Ben«, seufze ich. »Was hast du dir dabei gedacht?« »Todd?«, ruft Hildy von unten. »Vi?«
Ich klappe das Buch zu. Die Fragen müssen warten. Später mache ich mich bestimmt daran.
Ganz bestimmt.
Später.
Ich lege das Buch weg und gehe nach unten, wo Viola bereits wartet. Hildy und Francia, die schon wieder die Arme verschränkt hat, warten ebenfalls.
»Ich muss zurück auf die Farm, Kinder«, sagte Hildy. »Esgibt eine Menge Arbeit, die getan werden will. Francia hat sich bereit erklärt, ein Auge auf euch zu haben, bis ich heute Abend wiederkomme, um nach dem Rechten zu sehen.«
Viola und ich schauen uns an. Wir wollen nicht, dass Hildy geht.
»Schönen Dank auch«, sagt Francia und zieht eine Grimasse. »Was auch immer meine Schwester über mich gesagt hat, ein Ungeheuer bin ich nicht.«
»Sie hat ...«, fange ich an, breche aber sofort ab, doch da vollendet mein Lärm schon den Satz für mich: Sie hat überhaupt nichts gesagt.
»Ja, das ist mal wieder typisch«, sagt Francia und wirft Hildy einen finsteren Blick zu, wirkt aber nicht allzu verärgert. »Ihr könnt vorerst hierbleiben. Pa und Tantchen sind schon lange tot, ihre Zimmer werden im Moment nicht gebraucht.«
Also hatte ich Recht. Ein Alte-Leute-Zimmer.
»In Farbranch wird gearbeitet«, fährt Francia fort und mustert abwechselnd Viola und mich. »Ich erwarte von euch, dass ihr euren Unterhalt verdient, selbst wenn es nur für einen Tag oder zwei ist, während ihr überlegt, wie’s weitergehen soll.«
»Das wissen wir selbst nicht genau«, sagt Viola.
»Hmpf«, macht Francia. »Falls ihr länger bleibt, dann wartet gleich beim Obstgarten die Schule auf euch.«
»Die Schule?«, frage ich.
»Die Schule und die Kirche«, sagt Hildy. »Falls ihr so lange bleibt.« Ich schätze, sie liest mal wieder meinen Lärm. »Also, was ist, bleibt ihr so lange?«
Ich sage nichts, Viola sagt nichts und Francia brummelt. »Bitte, Missus Francia ...«, sagt sie, als Francia Anstalten macht, etwas mit Hildy zu besprechen.
»Francia genügt, mein Kind«, sagt die Frau ein wenig überrascht. »Was gibt’s?«
»Kann ich hier irgendwo eine Nachricht zu meinem Schiff senden?«
»Deinem Schiff ...«, sagt Francia. »Meinst du ein Siedlerschiff irgendwo da draußen im dunklen Blau?« Ihr Mund wird ganz schmal. »Mit vielen, vielen Leuten an Bord?«
Viola nickt. »Wir sollen Meldung machen. Damit sie wissen, was wir hier vorgefunden haben.«
Violas Stimme ist so leise und ihre Miene so hoffnungsvoll, so offen und so in Erwartung einer Enttäuschung, dass ich erneut diesen Sog von Traurigkeit verspüre, der meinen Lärm aufsaugt und sich anfühlt wie ein großer Kummer, wie vollkommene Verlorenheit. Ich muss mich mit der Hand an der Sitzbank abstützen.
»Ah, meine
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