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Die Fluchweberin

Die Fluchweberin

Titel: Die Fluchweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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mischten sich mit den schemenhaften Umrissen der Seele. Sie rangen miteinander und gingen mehr und mehr ineinander über. Ein Schuss erklang. Doch es war nicht mein Vater, der zu Boden ging, sondern ich selbst. Ich sah mich daliegen, als wäre ich nichts weiter als ein unbeteiligter Zuschauer, beobachtete meinen Todeskampf, ohne das Geringste dabei zu empfinden. Als würde ich mich ins Unvermeidliche fügen.
    Über mir stand Skyler, die Pistole in der Hand, mit der er mich erschossen hatte. Seine Miene war so kalt, wie ich sie noch niemals zuvor gesehen hatte.
    Einen Moment lang sah es aus, als wolle er etwas sagen, stattdessen spuckte er auf meinen Leichnam, drehte sich um und ging davon. Bei seinem ersten Schritt erklang ein Knacken, als breche etwas unter seinen Sohlen entzwei. Doch er bewegte sich über glatten Beton.
    Wieder ein Knacken.
    Es kam aus der Wirklichkeit, durchdrang den Traum mitsolcher Deutlichkeit, dass es daran keinen Zweifel gab. Ich riss die Augen auf. Ein Schatten fiel über mich. Es dauerte einen Moment, bis ich mich im Zwielicht zurechtfand. Die schemenhaften Umrisse formten sich zu einer Gestalt. Ich öffnete den Mund, unsicher, ob ich schreien oder einen überraschten Ausruf von mir geben wollte. Es spielte ohnehin keine Rolle, denn ehe mir ein Laut über die Lippen kam, raste mir der Holzknüppel entgegen. Ein letzter Gedanke zog durch meinen Geist, bevor sich die Schwärze über mich legte und mein Bewusstsein erlosch: Ich war von Max New­man niedergeschlagen worden. Jenem Jungen, dessen Leiche ich vor nicht einmal zwei Stunden gefunden hatte.

 33 
    Ich kam nur langsam wieder zu mir.
    Vor meinem Bewusstsein spürte ich den Schmerz. Anders als der Kopfschmerz der letzten Tage kam dieser nicht aus dem Inneren meines Schädels, sondern von außen. An meiner Schläfe, dort, wo der Schmerz saß, spannte die Haut.
    Getrocknetes Blut , schoss es mir durch den Kopf.
    Irgendetwas war passiert.
    Etwas, das verhinderte, dass ich wie jeden Morgen in meinem Bett aus dem gewohnten Traum erwachte. Ich hatte nicht geträumt. Was mich gefangen hielt, war nicht von Bildern und Erinnerungen erfüllt, sondern von reiner Dunkelheit. Einer Dunkelheit, die jetzt von Stimmen durchdrungen wurde. Ein Mann und eine Frau, die leise miteinander sprachen. Zärtlich. Ich lauschte der Melodie ihrer Worte, ohne ihnen einen Sinn abtrotzen zu können. Dafür war ich noch zu tief in der Finsternis gefangen.
    Mein Bewusstsein kehrte nur ganz allmählich zurück. Ich lag auf einem harten Untergrund. Meine Hand und meine Wange ruhten auf rauem Holz. Ich war also nicht mehr im Freien, und dass ich meine Hand bewegen konnte, bedeutete, dass ich nicht gefesselt war.
    Warum sollte ich gefesselt sein?
    Ich versuchte mich zu erinnern, was passiert war, als ich die Frau sagen hörte: »Sie wacht auf.«
    »Es ist nur für kurze Zeit«, sagte der Mann. »Alles ist vorbereitet und schon bald kann uns nichts mehr trennen.«
    »Jede Minute ist zu lang, Liebster.« Mit jedem Wort wurde ihre Stimme undeutlicher.
    Als ich die Augen öffnete, erklang ein Fauchen. EinSchatten schoss auf mich zu und versickerte unterhalb meines Kinns.
    Die Runen sollten verhindern, dass Lavinia die Oberhand gewann, doch solange mein Bewusstsein ausgeschaltet war, schien sie sich frei bewegen zu können. Ich hob die Hand und tastete nach meinem Hals. Meine Finger trafen auf das Medaillon. Es dauerte einen Moment, bis ich die Bedeutung dieser Information verarbeitet hatte.
    »Es ist nicht nötig, es länger zu verbergen«, sagte der Mann.
    Der Klang seiner Stimme brachte schlagartig meine Erinnerung zurück.
    Die Hexenseele.
    Skyler, der wusste, wer ich wirklich war.
    Max’ tote Augen, die mir aus der Truhe entgegengeblickt hatten.
    Meine Flucht.
    Und ein Toter, der mich niedergeschlagen hatte.
    Max …
    Ich setzte mich auf, ignorierte den Schmerz in meinem Kopf ebenso wie den Schwindel, der mich übermannte, und wandte mich dem Ursprung der Stimme zu.
    Der Mann, der keine zwei Meter von mir entfernt stand und auf mich herabblickte, hatte keine Ähnlichkeit mit dem toten Jungen, dessen Stimme ich eben noch aus seinem Mund gehört hatte. Er war ungefähr so groß wie Max, doch damit endeten die Ähnlichkeiten bereits. Sein dunkelblondes Haar fiel ihm in langen Strähnen auf die Schultern herab. Die Augen waren von einem blassen Blau und seine hageren Züge hatten etwas Ehrfurchtgebietendes an sich. In einer Lederscheide an seinem Gürtel steckte ein Athame,

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