Die Fluchweberin
war. Jetzt hatte die Gestalt unmittelbar darunter gestanden und zu mir nach oben gesehen.
Okay, vielleicht hatte ich seine Aufmerksamkeit erregt, als ich das Fenster geöffnet hatte. Das war sogar ziemlich wahrscheinlich. Trotzdem war die Vorstellung, dass nachts irgendwelche Gestalten da draußen herumschlichen – oder war es derselbe gewesen? –, alles andere als beruhigend.
Mit fahrigen Bewegungen schob ich das Fenster wieder zu und zog die Vorhänge vor, ehe ich die Nachttischlampe anknipste. Ich hob das Medaillon auf, das ich nach dem Blitz fallen gelassen hatte, und untersuchte es im Lichtschein nach Brandspuren. Es war unversehrt. Als hätte es gar keinen Blitz gegeben.
10
Am nächsten Morgen fühlte ich mich noch mehr gerädert als gewöhnlich. Trotzdem konnte ich es kaum erwarten, zu sehen, ob mein Fluch Wirkung zeigte. Ich war so gespannt, dass ich mich zusammenreißen musste, um nicht schon vor Öffnung des Speisesaals unten aufzutauchen.
Wie üblich erwartete mich Skyler bereits vor der Tür. Als ich näher kam, schwand das Lächeln aus seinen Zügen. »Du siehst nicht wirklich ausgeschlafen aus.«
Ich zuckte die Schultern.
Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er nachhaken, dann veränderte sich sein Gesichtsausdruck und das Grinsen kehrte zurück. »Du hast gestern Kims Nervenzusammenbruch verpasst.«
Wie erstarrt sah ich ihn an. »Einen echten Zusammenbruch?«
»Ich würde es eher einen Kim-Zusammenbruch nennen.« Er hielt mir die Tür auf und wir stellten uns in die Schlange an der Essensausgabe. »Erst hat sie jeden, der blöd genug war, in die Bibliothek zu gehen, solange sie auch dort war, mindestens ein Dutzend Mal gefragt, ob er oder sie ihre Kette gesehen hat. Nachdem sie mit allen durch war, sie hat sogar Mr Petersen gefragt, warf sie sich heulend in Max’ Arme und hat so lange herumgejammert, bis Petersen sie rausgeschmissen hat.«
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. Mr Petersen war der Bibliothekar und er verteidigte die Ruhe in seinen heiligen Hallen mit allen Mitteln.
Wir hatten die Essensausgabe erreicht, ließen uns Toast, Eier und Marmelade geben und sahen uns nach freien Plätzen um. Ty winkte uns zu sich. Wir saßen noch nicht lange, da gesellten sich auch Lily und Mercy zu uns. Die beiden kicherten und glucksten.
»Du hast gestern wirklich was verpasst«, sagte Mercy an mich gewandt.
»Oh ja! Wer hätte gedacht, dass die Bibliothek ein so spannender Ort sein könnte«, fügte Lily hinzu. »Besser als Kino.«
»Skyler hat es mir schon erzählt.« Er hatte zwar nicht allzu viel gesagt, aber mehr musste ich offen gestanden auch gar nicht wissen. Viel mehr war ich darauf gespannt, Kim zu sehen. Ich konnte es nicht erwarten herauszufinden, ob man ihr etwas anmerken oder ob sich die Wirkung meines Fluchs erst nach und nach offenbaren würde.
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, betrat Kim in diesem Augenblick an Max’ Seite den Speisesaal. Eine halbe Stunde früher als gewöhnlich. Statt Max ihr Essen holen zu lassen, stellte sie sich zusammen mit ihm in die Schlange und nahm dann ihr Tablett selbst in die Hand. Auf dem Weg zu ihrem Stammplatz kamen sie auch an unserem Tisch vorbei. Dass Max uns einen Guten Morgen wünschte, war nicht weiter ungewöhnlich. Kim stand auf einem anderen Blatt. Statt wie gewöhnlich an uns vorbeizuschweben und uns mit Nichtachtung zu strafen, sah sie uns an und sagte: »Guten Morgen.«
Tys Gabel blieb auf dem Weg zu seinem Mund in der Luft stehen. Mercy und Lily starrten sie einfach nur an und selbst Skyler wirkte überrascht. Um ein Haar hätte ich gelacht. Ich rettete mich gerade noch in ein Husten und nickte ihr dann zur Begrüßung zu. Der Fluch wirkte! Und wie! Unser Tisch war nicht der einzige, an dem den Leuten der Kiefer herunterklappte, denn Kim grüßte jeden, an dem sie vorbeikam, zumindest mit einem Nicken.
»Was haben sie der in den Tee getan?« Ty sah ihr noch immer hinterher, die Gabel hatte er sich allerdings mittlerweile in den Mund geschoben und längst wieder neu beladen.
»Vielleicht hat sie gestern all ihre Bosheit rausgejammert?« Mercy zuckte die Schultern. »Wen interessiert das schon?«
Mich zum Beispiel. Zufrieden angesichts meines gelungenen Fluchs wandte ich mich meinem Frühstück zu.
Am Vormittag fiel Englische Literatur aus, da Miss Hinley mit Grippe im Bett lag und so schnell niemand einspringen konnte. Skyler war auf sein Zimmer gegangen, um etwas zu erledigen, er hatte was von nicht
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