Die Fluchweberin
fertig gewordenen Hausaufgaben gemurmelt und war verschwunden. Ich saß mit Mercy und den anderen in einem der Aufenthaltsräume und trank eine Tasse Schwarztee, als mir bewusst wurde, wie gelegen mir diese Freistunde kam.
Kim hatte Englische Literatur nicht belegt und ich wusste, dass um diese Zeit Sport auf ihrem Stundenplan stand. Das war meine Möglichkeit, ihr das Medaillon unbemerkt zurückzugeben.
Ich öffnete meine Tasche und wühlte demonstrativ darin herum, auf der Suche nach etwas, das gar nicht fehlte. Dann sprang ich fluchend auf. »Ich habe meinen Taschenrechner vergessen. Bin gleich zurück.« Ich trank meinen Tee mit zwei Schlucken aus, stellte die Tasse in den Geschirrspüler, schnappte mir meine Tasche und machte mich aus dem Staub.
Statt zu meinem Zimmer zu gehen, lief ich nach draußen. Ich folgte dem breiten Kiesweg zu den Sporthallen und betrat den Trakt durch eine Seitentür. Der Geruch von Bohnerwachs und Zitronenreiniger stieg mir in die Nase, als ich dem langen Gang entlang zur Umkleidekabine der Mädchen folgte. Aus den dahinterliegenden Hallen hörteich Rufe und Gelächter, die sich mit den schnellen Schritten unzähliger Füße vermischten, immer wieder vom Donnern eines aufschlagenden Balls durchbrochen.
An der Umkleidekabine öffnete ich vorsichtig die Tür und spähte hinein. Niemand zu sehen. Den ganzen Raum konnte ich allerdings nicht überblicken, da er durch lange Reihen von Metallspinden in mehrere Gänge unterteilt war. Ich lauschte, konnte aber bis auf das Rauschen einer Dusche im nebenan gelegenen Waschraum nichts weiter hören. Schnell schlüpfte ich hinein und ging zu Kims Spind. Ich zog das Medaillon aus meiner Tasche und betrachtete es noch einmal, staunend, dass der Blitz nicht die geringste Spur darauf hinterlassen hatte.
Es kostete mich nur einen raschen Blick, um den idealen Ort zu finden, an dem Kim es garantiert entdecken würde: das offene Schuhregal unter dem Spind. Ich platzierte das Schmuckstück so, dass die Kette heraushing und der Anhänger, wenn man genauer hinsah, deutlich zu erkennen war.
Mit einem letzten Blick nach allen Seiten versicherte ich mich, dass mich auch niemand beobachtet hatte, dann verließ ich die Umkleidekabine und kehrte in den Aufenthaltsraum zurück.
Meine Neugierde, ob Kim das Medaillon auch wirklich gefunden hatte, wurde nicht lange auf die Probe gestellt. Der nächste gemeinsame Unterricht war die Mathestunde bei Mr Cranston.
Mittlerweile hatte sich Skyler wieder zu uns gesellt und ich war froh über seine Anwesenheit, denn wir erreichten den Klassenraum beinahe zeitgleich mit Kim und ihrem Gefolge, bestehend aus Michelle, Tanya und Cin. Es ging genauso los wie gestern.
»Wenn das nicht die Weichspülertussi ist«, grinste Michelle und ließ ihre fiese Lache hören.
Doch statt zu schnauben und ebenfalls einen blöden Kommentar abzugeben, schüttelte Kim den Kopf. »Lass sie in Ruhe.«
Michelle und Cin wirkten überrascht, Tanya runzelte pikiert die Stirn. »Hast du die jetzt auch in dein Schutzprogramm aufgenommen?«
»Ich hab euch doch schon gesagt, dass ich nachgedacht habe.«
Offensichtlich war ich bis jetzt nicht die Einzige, die Kim vor ihren Freundinnen in Schutz genommen hatte. Es fühlte sich seltsam an, dass sich ausgerechnet Kim vor mich stellte, fast schon ein wenig gruselig. Die Gesichter der drei Grazien waren das jedoch wert. Cin wirkte geradezu schockiert, sodass ich Angst bekam, ihr würde vor Schreck das Make-up vom Gesicht bröckeln. Michelle sah einfach nur verwirrt aus, sie war noch nie die hellste Leuchte im Lampengeschäft gewesen, und Tanya war wütend.
»Geht schon mal rein, ich komme gleich nach.« Mit einer herrischen Geste verscheuchte Kim ihr Gefolge, und kaum waren die drei verschwunden, wandte sie sich mir zu. Sofort rückte Skyler näher an mich heran.
Kim zog die Kette unter ihrer Bluse hervor und hielt mir ihr Medaillon unter die Nase. »Sieh dir das an! Ich habe es wieder! Sorry, dass ich so gemein zu dir war und dich obendrein auch noch verdächtigt habe. Dabei war ich selbst schuld. Es muss mir gestern beim Sport runtergefallen sein.«
Das war die längste Rede, die Kim je ohne eine einzige Beleidigung an mich gerichtet hatte. Und sie war noch nicht fertig. Plötzlich legte sie mir die Hand auf den Arm. »Jedenfalls wollte ich dir unbedingt sagen, dass ich das alles nicht so gemeint habe und dass es unüberlegt von mir gewesen ist, derart auf dich loszugehen.«
So, wie sie klang,
Weitere Kostenlose Bücher