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Die Fluchweberin

Die Fluchweberin

Titel: Die Fluchweberin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Melzer
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gewesen war als die Sicherheit unserer Familie. Tränen traten mir in die Augen. Ich strich mit dem Daumen über ihr Gesicht. »Warum hast du nicht auf Dad gehört?«
    Ich schaltete das Licht aus und wartete. Ganz allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und schon bald konnte ich im Schein des einfallenden Mondlichts die kantigen Umrisse meiner Möbel erkennen. Sobald ich mir sicher war, gut genug zu sehen, um nicht gleich beim ersten Schritt über den Wäschekorb oder die Truhe vor meinem Bett zu stolpern, holte ich das Medaillon aus meiner Tasche und zog Kims Haar unter dem Buch hervor. Zum Schluss schnappte ich mir noch ein Feuerzeug und ließ mich mit untergeschlagenen Beinen auf dem Boden nieder.
    Das Schmuckstück lag kühl in meiner Hand. Zum ersten Mal nahm ich mir die Zeit, es eingehender zu betrachten. Die ziselierte Oberfläche schimmerte hell im Mondschein. Sie zierte ein Muster aus verschlungenen Ranken und Symbolen, die sich über die gesamte Vorderseite zogen. DieRückseite war glatt und frei. Nachdenklich ließ ich die feinen Kettenglieder durch meine Finger gleiten, während ich meine Aufmerksamkeit darauf richtete, was vor mir lag.
    Wenn man jemanden mit einem gewöhnlichen Fluch belegte, genügte es, den Namen der betreffenden Person zu kennen. Leichte Flüche wie der Ausschlag, den ich Kim verpasst hatte, legten sich wie eine Schicht über die betroffene Person. Eine Schicht, die sich mit der Zeit wieder verflüchtigte, bis von dem Fluch nichts mehr übrig blieb. Dafür musste ich nichts weiter tun, als mir die Wirkung des Fluchs vorzustellen, den ich jemandem anhängen wollte, und ihn gedanklich in Worte zu fassen.
    Dieses Mal jedoch schwebte mir etwas Dauerhaftes vor. Um eine permanente Wirkung zu erzielen, musste ich den Fluch mit Kims Aura verweben. Auf diese Weise wäre er an sie gebunden und könnte sich nicht einfach wieder verflüchtigen. Dafür brauchte ich einen Gegenstand, der meiner Zielperson gehörte. Mein Blick fiel auf das Medaillon, das vor mir auf den Boden lag, und wanderte dann weiter zu dem blonden Haar in meiner Hand. Das Haar war ein Glücksfall, denn dadurch konnte ich die Verbindung zwischen dem Fluch und Kim noch enger knüpfen.
    Bisher hatte ich nur darüber gelesen, wie man einen Fluch mit einer Person oder einem Gegenstand verknüpfte. Ausprobiert hatte ich es noch nie. Und nachlesen konnte ich es auch nicht mehr, denn jedes Buch über Magie, das mir im Laufe meines Lebens in die Finger gekommen ist, habe ich studiert und anschließend vernichtet. Ein grauenhaftes Sakrileg und vor allem ein schlimmer Verlust an Wissen, doch das Risiko, dass jemand eine verbotene Schrift bei mir fand, war einfach zu groß. Wenn ich erst volljährig war, auf eigenen Beinen stand und eine Wohnung hatte, die nur mir gehörte, konnte ich mir dort ein sicheres Versteck einrichten. Dann wäre ich nicht länger gezwungen, derart kostbare Schätze zu vernichten.
    Heute musste es auch ohne Anleitung gehen. Zum Glück war mein Vorhaben nicht sonderlich kompliziert, und soweit ich es beurteilen konnte, hatte ich noch jeden Schritt im Gedächtnis.
    Mein erster Impuls war es gewesen, Kim durch meinen Fluch zu zwingen, sich so zu verhalten, dass sie all ihre Freunde verlor. Abgesehen von ein bisschen persönlicher Be­friedigung wäre mir damit jedoch nicht weitergeholfen. Um in Zukunft vor ihren Bosheiten gefeit zu sein, durfte sie mich nicht länger zur Kenntnis nehmen. Mich sozusagen von ihrem Radar verschwinden zu lassen, wäre die perfekte Lösung gewesen. Dann hatte ich jedoch eine bessere Idee gehabt. Kim sollte sich künftig allen Menschen gegenüber nett benehmen. Ihnen allen dieselbe Wertschätzung entgegenbringen und kein böses Wort mehr über diejenigen verlieren, die sie als Loser und Außenseiter betrachtete, oder in irgendeiner Form Hand an sie legen. Das war perfekt! Ihr Gefolge würde ziemlich blöd aus der Wäsche schauen, wenn Königin Kim plötzlich nett zum Fußvolk wäre!
    Schade nur, dass ich es nicht so drehen konnte, dass Kim ebenfalls mitbekam, dass ihr Verhalten alles andere als normal war. Kim selbst durfte nichts merken. Andernfalls könnte sie gegen den Fluch ankämpfen oder sich Hilfe holen. Ihr musste ihr Verhalten vollkommen normal erscheinen. Natürlich wäre ihr klar, dass sie sich anders verhielt als gewöhnlich, doch sie würde die Gründe dafür niemals außerhalb suchen. Stattdessen musste es ihr erscheinen, als hätte sie begriffen, dass es

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