Die Fluchweberin
Minutenlang stand ich davor und starrte die Tür an, ehe ich endlich meine Hand nach dem Griff ausstreckte und sie aufzog.
Aus dem Spiegel an der Türinnenseite starrte mir mein eigenes bleiches Gesicht entgegen. Ich straffte die Schultern und holte einmal tief Luft, dann wechselte ich in Aurensicht, was nun wieder ohne Probleme funktionierte.
Über der gewohnten Farblosigkeit meiner Aura lag ein grauer Schleier, ähnlich dem, den ich zuletzt bei Kim gesehen hatte. Vorsichtig streckte ich die Hand danach aus, darauf gefasst, dass es mir wie vorhin auch einen Schlag verpassen würde. Ein Prickeln erfasste meine Haut und die Härchen an meinen Armen richteten sich auf, als seien sie elektrisch aufgeladen.
Der erwartete Schlag blieb aus.
Näher und näher schob ich meine Hand heran. Als meine Fingerspitzen nur noch einen halben Zentimeter entfernt waren, spürte ich immer noch nichts. Mutiger geworden überbrückte ich auch noch das letzte bisschen Distanz. Den dunklen Schleier zu berühren, war, als würde ich meine Finger auf eine heiße Herdplatte legen. Zischend riss ich die Hand zurück und pustete auf meine Fingerspitzen. Da sah ich es.
Der graue Schleier löste sich aus meiner Aura und schoss über meinen Kopf hinweg an die Zimmerdecke. Ich fuhr herum und sah, wie er sich unter der Decke zu einem vagen menschlichen Umriss formte, der – kaum dass er Gestalt angenommen hatte – auf mich herabfuhr.
Der Angriff warf mich zurück. Ich stürzte in den Schrank und ging in einem Regen aus Röcken, Blusen und Hosen zu Boden. Mit rudernden Armen versuchte ich mich aus den Stoffen zu befreien, als der Schemen nachsetzte.
Kreischend legte er sich über mich, hüllte mich ein und schnürte mir die Luft ab. Ich glaubte Worte zu hören, die jedoch ebenso gut meine eigenen panischen Hilferufe gewesen sein konnten.
Wild um mich schlagend und tretend, versuchte ich mich zu befreien, doch der dunkle Nebel hatte mich fest im Griff. Nachdenken. Ich musste nachdenken! Aber solange ich derart in Panik war, war das nicht möglich.
Durchatmen, Raine! , befahl ich mir selbst. Fokussieren!
Die Panik niederzukämpfen, während der Schemen mich einhüllte und zu ersticken drohte, war das Schwerste, was ich je getan hatte. In dem Augenblick jedoch, in dem ich begriff, dass es mein Ende wäre, wenn ich weiter in heilloser Angst versank, statt einen Ausweg aus meiner Lage zu suchen, klärte sich mein Verstand. Ich hörte auf, mich zu wehren, und versuchte mir einen Überblick zu verschaffen.
Sofort zog sich der Nebel von meiner Haut zurück, alshätte er meine Kapitulation anerkannt. Die Schlieren erhoben sich über meinem Bauch, wo sie sich erneut zu einer menschlichen Gestalt verdichteten. Ich konnte kein Gesicht sehen, lediglich wabernde schemenhafte Umrisse, deren deutlich spürbares Gewicht auf mir lastete.
Geisterhafte Schlieren reckten sich mir entgegen und schlossen sich um meinen Hals. Ihre Berührung fühlte sich fest an, wie die einer Hand, die sich um meine Kehle legte und zudrückte.
Ich versuchte die Kreatur von mir zu stoßen, doch so fest sich der Griff um meinen Hals auch anfühlen mochte, meine Finger glitten durch ihren Leib wie durch Nebel. Mehr und mehr schnürte es mir den Atem ab. Meine Lungen brannten und mein Mund und meine Kehle fühlten sich staubtrocken an. Auf der Suche nach etwas, mit dem ich mich verteidigen konnte, schielte ich zur Seite. Ich ließ meinen Blick durch das Zimmer schweifen, auch wenn ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie ich mich gegen etwas zur Wehr setzen sollte, das nicht einmal materiell zu sein schien.
Der Angriff sowie die ganze Präsenz dieses Wesens waren pure magische Kraft. So stark, dass die Luft um mich herum knisterte, als wäre sie elektrisch aufgeladen.
Mein Blick schoss nach links, doch auch hier fand ich nichts, womit ich mich hätte verteidigen können. Alles, worauf ich stieß, war mein eigenes Spiegelbild, das mir von der Innenseite der Schranktür entgegenstarrte.
Aber das war … heilige Scheiße, es war nicht mein Spiegelbild! Tatsächlich sah es so aus, als würde ein Geisterbild meine eigenen Züge überlagern. Verschwommen und undeutlich legte sich ein fremdes Antlitz über meines, als hätte jemand ein Foto über mein Gesicht projiziert. Die Augen jedoch erkannte ich sofort. Es waren dieselben braunen Augen, die mir gestern aus Kims Gesicht entgegengeblickt hatten.
Gelähmt vor Entsetzen stellte ich für einen Moment meine Gegenwehr ein. Ein
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