Die Flüchtlinge
Farseer. Er gab den Jungen als seinen Neffen aus. Es war nicht schwer, ihn aufzuspüren, Menet Kennerin. Ein alter Mann, der offensichtlich nicht alle beisammen hatte. Er war zwar jedem gegenüber mißtrauisch, aber andererseits bereits viel zu verwirrt, um sich auch nur den leisesten Hauch einer Verkleidung zu leisten. Vor einem Monat haben wir ihm Ihren Sohn abgekauft, Menet.“
„Sie haben …“
„Für zwei Kisten Schnaps, Menet. Es war ein leichtes Geschäft!“
Das Kind hatte inzwischen das Interesse an den beiden Fremden verloren und wandte sich wieder seiner Puppe zu, die es auf den Schoß nahm und mit ernster Miene abküßte.
„Morgen werden Sie mit meinem Neffen und mir zu Abend essen“, sagte der Erzbischof ruhig. „Mein Neffe ist geradezu fasziniert von medizinischen Apparaten, bringen Sie also etwas zu seiner Unterhaltung mit. Am Tag darauf wird der Regent dann heiraten. Kurz darauf wird man Ihnen eine Privataudienz gewähren. Neun Monate später wird es hier eine Geburt geben. Und Sie, Menet Kennerin, bekommen dann Ihren Sohn zurück.“
Stonesh machte eine Handbewegung. Das Kindermädchen stand auf, nahm den Jungen und die Puppe auf den Arm und tauchte im weitverzweigten Labyrinth des Irrgartens unter. Hart sah ihnen nach. Das helle Gelächter des Kindes erfüllte das grünwandige Viereck.
Der Wagen ruckte an und holperte über das ungleichmäßige Kopfsteinpflaster. Als sich der Torbogen des Palastes über ihm auftürmte und dann zurückfiel, packte Hart seine Tasche fester. Augenblicklich nahm die Qualität des Straßenzustandes ab. Als der Fahrer auf einen niedrigeren Gang herunterschaltete, jaulten die Triebwerke auf. Es war schon dunkel, aber noch immer erwies sich die Luft Saltenas als heiß und klebrig. Je tiefer sich der Wagen in die Stadt hineinbewegte, desto stärker überlagerte der Geruch von Abfällen und Schweiß den starken Blütenduft der Palastgärten.
An diesem Abend hatte der Junge mit ihnen gegessen. Man hatte ihm einen höfischen Anzug verpaßt und gegenüber dem Regenten Gottes Platz nehmen lassen. Seine klare Stimme hatte das bedeutungslose Gebrabbel des Regenten übertönt, und während sein Gegenüber sich mit schmutzigen Fingern den Bauch vollschlug, hatte der Junge mit Messer und Gabel gegessen. Am Ende der Mahlzeit war eine Frau hereingekommen, um das Kind abzuholen, aber Hart war aufgestanden und hatte sich zwischen die beiden gestellt. Die Frau warf dem Erzbischof einen fragenden Blick zu und erhielt ein Nicken zur Antwort. Hart hatte sich vor dem Jungen auf den Boden gekniet.
„Wie heißt du denn?“ fragte er.
„Spider.“
„Das ist aber ein komischer Name.“
„Gren hat mich so genannt, weil ich klettern kann.“
„Aha. Gefällt dir der Name?“
„Ja. Dir auch?“ Spider sah Hart derart ernst an, daß er in den blauen Augen des Kindes nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Vater wiedererkannte.
„Ja. Mir gefallt er auch, Spider. Hat Gren dir je einen Gutenachtkuß gegeben?“
„Nein.“
„Darf ich es dann tun?“
„Wenn du willst.“ Spider rutschte aus seinem Stuhl geradewegs in Harts Arme. Sorgfaltig, als gelte es, einen Kristall zu berühren, legte Hart die Arme um den Jungen, zog ihn an sich und küßte ihn auf die Wange. Die Haut des Kindes war süß und ebenmäßig. Er drehte langsam den Kopf.
„Und jetzt bin ich dran“, sagte Spider. Sein Kuß war schnell und trocken.
„Zeit für’s Bett“, sagte die Frau streng.
Sofort löste sich das Kind aus Harts Armen und folgte der Frau gehorsam hinaus. Als Spider die Schwelle überschritt, hob Hart den Kopf und sah dem Erzbischof in die Augen. Der Regent rülpste. Ein Lakai trat ein und brachte Harts Tasche.
Der Wagen hielt nun an. Ein Begleiter des Fahrers öffnete den Schlag. Hart stieg aus und stand vor dem Tor seines Hauses. Er blieb so lange dort stehen, bis der Wagen wieder in den verwinkelten Straßen untergetaucht war.
Melthone eilte über den Hof.
„Herr …“
„Später“, sagte Hart. Im Hof warf er seinen Umhang auf eine Bank.
Melthone riß die Arme in die Luft. „Herr, es ist jemand da, der Sie sprechen möchte!“
Hart blieb stehen. „Wer?“
„Die Lady Tara, Herr. Sie bestand darauf. Ich konnte sie nicht wieder wegschicken.“
„Wo ist sie?“
„Im Salon, Herr. Dort ist sie seit Sonnenuntergang.“
„Sag ihr, ich sei nicht zu Hause.“
„Tut mir leid, Herr, aber sie hat den Wagen ankommen hören.“
„Dann sage ihr, daß ich ein Bad nehme.
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