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Die Flüchtlinge

Die Flüchtlinge

Titel: Die Flüchtlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marta Randall
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und das Gewissen besäße, dermaßen mit sich zu verfahren. Die einzige Lösung des Dilemmas müsse also darin bestehen, das Urteil sofort aufzuheben. Kleine, logisch denkende, aufgebrachte Mish. Man hatte ihr ebensowenig Aufmerksamkeit gezollt wie allen anderen Kritikern der Gesetze. Und ich war vom Podium herabgestiegen, um mich mit dieser kleinen Nervensäge von einer Frau, die mich zutiefst verunsichert hatte, weiter zu unterhalten. Dann hatte ich mich in sie verliebt.
    Töten ist Mord. Ohne Ausnahme. Es gibt keine Entschuldigungen dafür.
    Daß sie jemanden umgebracht und gesagt hatte, sie würde es im Notfall wieder tun, bedeutete allerdings nicht, daß sie dabei war, ihren eigenen moralischen Grundsätzen zu entsagen. Sie hatte getötet, um sich und ihren Sohn zu schützen; aber Selbstverteidigung war ja keine Entschuldigung. Auch unter dem Gesichtspunkt, daß ihr Handeln einen ganzen Planeten gerettet hatte, blieb es ein Mord.
    Beim ersten Überfall auf Neuheim hatte ich selbst Menschen umgebracht. Obwohl meine Weste nicht weißer war als die ihre, erwartete sie von mir ein Urteil. Ich war völlig ratlos und konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen.
    Sie saß neben mir und sah mich an, als sei sie dazu bereit, den Rest ihres Lebens unter Bäumen zu verbringen. Sie überließ ihre Schuld meinem Urteil und hatte sich wieder einmal verändert. Aus der warmherzigen, starken Frau unserer einsamen Anfangsjahre, aus der kühlen, distanzierten Frau, die sie seit Meyas Geburt geworden war, sah mir eine andere entgegen. Irgendwie hatte ich sie verloren, und jetzt erschien es mir, daß ich sie erreichen konnte. Ich mußte sie berühren und die Wärme und die Stärke in sie zurückholen. Statt dessen saß ich stumm da und fürchtete mich, etwas Falsches zu sagen, das sie mir für immer entfernt hätte.
    Wir brauchen Rituale und Zeremonien, hatte Hoku gesagt. Sie können uns nützlich sein.
    Ich stand auf und wartete, bis Mish wieder auf den Beinen war, dann wandte ich mich um und ging zum Fluß hinunter. Als sie mir folgte, hörte ich das Unterholz knacken. Ein paar Meter flußabwärts lag ein von Felsen und Bäumen umgebener, tiefer Teich. Ich wartete, bis sie neben mir stand, dann deutete ich mit dem Kinn auf das Wasser. Ohne zu zögern verließ sie das Ufer und verschwand.
    Sie tauchte nicht wieder auf. Ihr Tauchmanöver hatte den Schlamm aufgewirbelt, deswegen sah ich sie nicht mehr. Langsam beruhigte sich das Gewässer wieder. Sie tauchte noch immer nicht auf.
    Ich nahm einen Anlauf und stürzte mich kopfüber hinein. Mish saß mit gekreuzten Beinen auf dem weichen Teichboden. In ihrem schönen, dunklen Haar hatten sich Blasen verfangen. Sie hielt sich an der Wurzel eines Baumes fest. Sie sah mich an, öffnete den Mund, stieß eine Ansammlung von Sauerstoffblasen aus, und ich packte sie und schaffte sie nach oben.
    Sie zitterte wieder, aber diesmal vor Kälte. Ich preßte sie an mich, rieb ihre Arme und Schultern und redete unverständliches Zeug. Sie legte einen Finger auf meine Lippen.
    „Du bist meinetwegen gekommen.“
    „Natürlich bin ich das! Gütige Mutter, glaubst du, ich hätte dich ertrinken lassen?“
    „Das wußte ich nicht“, erwiderte sie einfach.
    Ich schmiegte mein Gesicht an ihr feuchtes Haar, hielt sie fest und verfluchte sie lange und ausgiebig. Dann verfluchte ich mich selbst. Mish legte ihre Arme um meinen Hals und fing an zu weinen. Ein Teil ihres Schmerzes galt möglicherweise ihrer verlorenen Unschuld; der Rest galt der Erkenntnis, auch nicht besser zu sein als wir alle. Ich kann es nicht sagen. Nach einer Weile schlief sie ein. Ihr Gesicht sah nun älter aus.
    Als ich sie aufhob, um sie nach Hause zu tragen, wurde sie wach und bestand darauf, allein zu gehen. Als wir durch Haven kamen, lächelte sie den Leuten zu, nickte und nahm meine Hand.
    Ich kannte die Mish, die ich an diesem Nachmittag nach Hause brachte, nicht wieder. Ich wußte überhaupt sehr wenig von ihr – außer, daß sie sich wieder einmal verändert hatte und nun erneut Wärme ausstrahlte.
     
    Eine Abordnung abgehärteter Aeriten flog zur Folly hinauf und reinigte die Frachtkisten von den Überresten der implodierten Soldaten. Wie sie erklärten, stammte der größte Teil der Rotfärbung auf den Kisten von matschigen Trauben, aber was Mish betraf, so ging sie dem Obst tunlichst aus dem Weg.
    Wir fanden geschmacklose Prunkgewänder, funkelnde Juwelen, Konserven mit exotischer Nahrung, Kisten voller Kunstwerke und

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