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Die Flüchtlinge

Die Flüchtlinge

Titel: Die Flüchtlinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marta Randall
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den Händen fallen: die Decke, die Trommel, die Pfeife, das ganze Spielzeug. Ich höre das Tappen von Füßen auf dem Flur. Mir ist, als hätte jemand meinen Namen gerufen.
    Quilla steht im Türrahmen. Sie sieht verwirrt aus. Sie hätte sich eher bemerkbar machen sollen, diese aus zwei Teilen bestehende Person. Sie hat sich leise hereingeschlichen, um mich zu überraschen. Als sie meinen Namen ausspricht, spielt sie mit dem „r“, das ziemlich weich und schleppend über ihre Lippen dringt.
    „Was willst du?“
    Hat sie meine Augen gesehen? Ich wage es nicht, die Hand zu heben und mir die Wangen abzuwischen. Das Licht ist hinter mir, es kommt vom Nachttisch. Sie kann meine Augen nicht sehen, nein.
    „Nichts“, sagt sie. Sie kommt herein und setzt sich. Ihr Bauch füllt ihren Schoß aus. „Ich sah nur, daß du hinausgingst, und dachte, daß du vielleicht sauer bist.“
    „Nein.“
    „Was machst du?“
    „Ich ziehe aus.“ Ich stopfe noch ein paar Sachen in einen Beutel und schiebe mit einem Tritt alle Spielsachen, Decken, Pfeifen und Erinnerungen unter das Bett. Sie erzeugt ein Unwohlsein in mir.
    „Wohin gehst du?“
    „Nach Haven. Gren und ich haben dort ein Haus.“
    „Gren“, sagt sie. „Hast du Mish oder Jason gefragt?“
    „Das brauche ich nicht. In drei Monaten bin ich erwachsen und kann sogar wählen gehen. Ich brauche ihre Erlaubnis dazu nicht.“
    Sie faltet die Hände über dem Bauch. In ihr tritt das Kind um sich. Ich sehe, wie ihre Hände auf und nieder wippen. Fleisch.
    „Hast du es ihnen wenigstens erzählt?“
    „Sie werdend schon noch früh genug erfahren.“
    „Das wird ihnen nicht gefallen.“
    „Wie schade.“
    Sie hebt den Kopf. Ihre Lippen sind zwei schmale Striche. Ich weiß, was jetzt kommt. Ich kenne diesen Blick.
    „Hat dir irgendjemand weh getan, Hart?“
    Oh, wie dreckig, wie heimtückisch! Ihre Frage wirft ein Echo, das jahreweit zurückklingt, in eine Zeit, als die Maden noch nicht da waren, bevor ich sie alle verlor. Ihre Frage verengt mir die Kehle. Ich verschließe den Beutel und werfe ihn mir über die Schulter. Ich denke an all die bitteren, beißenden Worte, die ich sagen könnte, aber meine Kehle ist wie ausgedörrt, und ich will es nicht riskieren, einen schlechten Abgang zu machen. Also schweige ich, wende mich ab, gehe auf die Tür zu. Ja. Eisig. Kalt.
    Aber plötzlich steht Quilla da und verwehrt mir den Abgang, legt eine Hand auf meine Schulter, legt die andere unter mein Kinn, versucht meinen Kopf anzuheben, damit ich sie anblicke. Ich winde mich los.
    „Hart, bitte …“
    „Laß mich in Ruhe!“
    „Ich versuche doch nur …“
    „ Laß mich in Ruhe!“ Oh mein Gott. Oh Scheiße. Ich weine. „Geh weg von mir! Geh zu deinen Madenfreunden. Laß mich gehen!“
    „Hart …“
    „Warum hast du das getan?“ Ich deute mit einem Finger auf ihren Bauch. Sie geht einen Schritt zurück und legt schützend die Hände auf ihren Leib. „Warum waren wir dir nicht gut genug? Warum mußtest du mit … mit ihm gehen, mit diesem Mann? Warum konntet ihr nicht alles so lassen wie es war?“
    Wieder greift sie nach mir. Ich stoße sie beiseite und fliehe die Treppe hinunter. Ich höre, wie sie hinfällt. Jason steckt seinen Kopf in den Korridor hinein und sagt etwas, aber ich bleibe nicht stehen. Soll Quilla es doch erklären. Sie wird sich schon etwas Gutes ausdenken.
    Am Fuß des Hügels muß ich anhalten. Ich werfe mich ins Gras und ringe nach Luft. Es wird besser.
    Gren steht im Eingang des Hauses an der Schulstraße und beobachtet mißtrauisch die umliegenden Gebäude, weil er fürchtet, die neuen Nachbarn könnten ihm seine kostbaren Geheimnisse stehlen. Und kostbar, das sind sie. Ich beherrsche sie alle: die Grundzüge von Biologie, Biomedizin und Chemie. Gren hat mir seit über einem Jahr nichts mehr beibringen können, und das scheint ihm ganz schön unheimlich zu sein, dem irren alten Kerl. Aber er hat auch seine guten Seiten.
    Er weiß zum Beispiel, wann man das Maul zu halten hat. Schweigend trägt er meine Sachen in mein Zimmer, schweigend zieht er sich in seine Ecke zurück, und schweigend trifft er seine Vorbereitungen, ins Bett zu gehen. Ich gehe durch das Haus, zünde die Lampen an und sehe nach dem Rechten. Es ist nicht allzu übel hier. Man lebt zurückgezogen, trotz der Nachbarn. Wenn erst der Keller fertig ist, wird es perfekt sein. Rechts und links von uns und auf der gegenüberliegenden Seite leben zwar auch Leute, aber hinter uns gibt es nur die

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