Die Flüchtlinge
Bedeutung der Liebe, der Veränderung und des Todes. Nachdem sie Tabor dessen entleert hat, was sie wollte, hat sie ihn ausgespuckt. Sie wird ihn nicht heiraten. Meine Schwester, diese Schlampe, brütet einen Bastard aus. Und Tabor merkt nicht einmal, daß sie ihn nur ausgenutzt hat. Er wird natürlich wiederkommen; er wird immer wiederkommen. Und sie wird weiterhin nur von ihm nehmen, ohne ihm dafür etwas zu geben. (Früher gab sie. Sie gab mir. Liebe und Pflaster. Quilla?) So ist sie, meine ganze Familie. Sie nehmen nur. Sie sind gefräßig. Selbstgefällig und egoistisch. Die Maden haben Blutsauger aus ihnen gemacht, aber sie sind zu blind, um es selbst zu bemerken. Sie sind sogar zu blind, um zu wissen, wie gut ich sie kenne.
Und ich kenne sie, ich kenne sie sehr gut, ich kenne sie in- und auswendig. Und warum auch nicht? Ich kenne mich selbst, und ich bin wie sie. Samen und Ei, Blut von meinem Blut, Oberflächlichkeit, Lüsternheit.
Mim kommt aus der Küche, geht hinter mir her durch den Raum, stellt vor meinem Vater einen Teller ab, geht hinaus. Sie geht mir aus dem Weg. Mim mag mich nicht, und ich mag sie nicht. Mim, die Made. Eine Fremde. Ein hinterhältiges Weib. Sie versucht, Laur gegen mich aufzuhetzen, aber das schafft sie nicht. Laur hat einfach nicht genug Köpfchen, um sich gegen mich aufhetzen zu lassen, und dafür liebe ich sie.
Ich bin fünfzehn Jahre alt. Ich habe meine Sinne beisammen. Ich kann mir das Leben selbst gestalten. Ich lebe es auf meine Weise. Und heute abend werde ich es wieder tun. Ich packe meine Sachen und ziehe aus. Heute abend kann ich es mir erlauben, sie uninteressiert und kalt zu beobachten.
„Hart, Nachtisch?“
Das ist Quilla. Sie beugt sich unbeholfen und lächelnd zu mir herüber und hält mir eine Schüssel mit Sahne und Süßigkeiten hin.
Quilla.
Die nette, alte Laur; sanfte alte Tante. Sie sieht zu, wie Mim abräumt. Laur hat eine Tasse Tee in der Hand und setzt sich neben mich, beäugt meinen Teller, schüttelt den Kopf. Mim sitzt neben meiner gedankenverlorenen, schwangeren Schwester. Sie tuscheln und unterhalten sich – nehme ich an über abstoßende Dinge. Über was kann man sich auch schon mit einer Schwangeren unterhalten? Mutterkuchen, Schließmuskeln, Milchabsonderung, Babyscheiße, Kotze. Ich könnte ihr über jedes dieser Themen mehr erzählen, als sie sich vorstellen kann oder wissen will. Soll ich dir sagen, wie Leben entsteht, fruchtbare Quilla? Nicht durch sich aneinander-pressende Körper und einen Spritzer Schleim, nicht durch ein Zucken in den Lenden und geistige Selbstbefriedigung. Chemikalien und Atome, Quilla. Zellen und Veränderung. Puritanismus, biologische Reinheit, umgeben von Korruption, so unglücklich in soviel menschlichem Fleisch eingebettet. Geheimnisse des Fleisches. Fleisch von meinem Fleisch. Quilla. Hat dein Baby zwei Köpfe?
Ich verlasse den Tisch und den Raum. Natürlich bemerken sie es, aber sie sagen nichts. Mir tut der Kopfweh.
Mein Zimmer ist klein und vollgestopft und riecht nach abgestandener Luft und ungelüfteten Gegenständen. Da ist das Fenster, durch das ich immer kletterte, um mich mit Gren zu treffen. Der schreckenerregende Gren. Wie konnte ich vor diesem zerbrochenen, ängstlichen alten Mann je Angst haben?
Weil ich ein Kind war, das ist alles. Ein kleines Kind. Aber ich wuchs. Ich lernte. Ich lerne immer noch, während die anderen am Tisch sitzen und Informationen austauschen, die so alt und überholt wertlos sind wie ihr Leben.
Meine Familie.
Ich habe meine Sachen schon gepackt. Es ist nur wenig, was ich mitnehmen will. Kleider. Ein paar Schriften. Ein paar Werkzeuge.
Den größten Teil meiner Bücher und Kassettenbänder habe ich ohnehin schon fortgebracht. Und was bleibt zurück?
Eine Decke, die Mish für mich gemacht hat. Es ist lange her. Ein buntes Muster. Sie hat es selbst gemacht, Stück für Stück, im Winter am Kamin. Bevor die Maden kamen.
Eine Trommel, die mein Vater gemacht hat. Jason. Aus gehöhltem Holz, mit Kelvahaut überzogen, Vögel draufgemalt.
Jes’ alte Pfeife, ein schrilles Ding.
Eine Stoffpuppe, hergestellt aus einem von Quillas Hemden.
Ein hölzernes Schiff.
Die Fensterbank reicht mir nur noch an die Hüften. Ich erinnere mich, daß sie mir einst bis zu den Schultern reichte. Ich lehne mich gegen die Scheibe, schaue über das Küchendach und den großen, nach vorne gebeugten Baum. Meine Augen stechen.
„Hart?“
Ich drehe mich so schnell herum, daß mir die Sachen aus
Weitere Kostenlose Bücher