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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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hatte ich einmal zufällig im Radio gehört. War, hatte, was rede ich da, ich stehe jetzt hier, und einmal stand ich mit Maria Zeinstra hier, die mich mit ihren grünen, nordholländischen Augen ansah und sagte: »Was redest du da bloß, Bratklops? Wenn du die Zeit der Wissenschaft und die deines Seelchens nicht auseinanderhalten kannst, gibt’s nur Durcheinander.«
    Darauf hatte ich keine Antwort gegeben, nicht weil ich beleidigt war, denn ich fand es herrlich, von ihr Bratklops (oder Lampenschirm, Bratfisch, Apfelsine) genannt zu werden, sondern weil die Antwort hundert Meter weiter in der British Bar an der Wand hing. Sie merkte nichts, als wir dort eintraten, doch als wir in der Kühle und dem Schatten saßen und sie den ersten Schluck von ihrem Madeira genommen hatte, fragte ich beiläufig: »Wie spät ist es eigentlich?«
    Sie sah auf die große hölzerne Pendeluhr, die schräg gegenüber von uns hing, und ihr Gesicht nahm sofort den unwirschen Ausdruck von Menschen an, die es nicht leiden können, wenn die heiligen Regeln des geordneten Universums durchbrochen werden. »Ja, ja, so kann ich’s auch«, sagte sie und sah auf ihre Armbanduhr. »Gott, wie blöd.« »Ach, es ist auch eine Art, wie man die Zeit sehen kann«, sagte ich, »Einstein machte Sirup daraus, und Dalí ließ sie samt Uhr und allem schmelzen.« Auf der Uhr gegenüber war die übliche Zahlenreihe, die uns helfen soll, mehr oder weniger geordnet durch den uns zugewiesenen Teil des großen Luftballons zu kommen, umgedreht: Zehn vor halb sieben war zehn vor halb fünf geworden, mit allen Schwindelgefühlen, die dazu gehören. Ich hatte den Barkeeper mal gefragt, wie er zu der Uhr gekommen sei, und er hatte gesagt, er habe sie mitsamt dem ganzen Inventar übernommen. Und nein, er habe so etwas auch noch nie gesehen, aber ein Engländer habe ihm erklärt, es müsse etwas mit der Art und Weise zu tun haben, wie Kenner Portwein einschenken, gegen den Uhrzeigersinn.
    »Was kann man von Leuten schon anderes erwarten, die auf der falschen Straßenseite fahren«, sagte sie. »Wann gehen wir endlich rauf?«
    Thema beendet, und hinter ihrem wehenden roten Haar ging ich die Avenida das Naus entlang, die Avenida der Schiffe, als zeigte nicht ich ihr, sondern sie mir die Stadt. Das war damals, nicht jetzt. Die verkehrte Uhr hängt immer noch da, seit ich sie in Dr. Strabo’s Reiseführer aufgenommen habe, kommt halb Holland, um sie sich anzuschauen. Maria tanzte vor mir her wie ein Schiff, alles, was Mann war, drehte sich um, um noch mal zu schauen, um dieses wogende Wunder auch von hinten zu sehen, nicht weil sie so schön war, sondern weil sie, auf jeden Fall dort und damals, eine provozierende Freiheit verkörperte. Besser läßt sich das natürlich nicht sagen, es war, als steuerte sie ihren Körper durch die Menge, um von allen bewundert zu werden. Ich sagte einmal: »Du gehst nicht wie die Frau aus dem Gedicht, die nie sterben würde, sondern wie eine Frau, für die jeder sofort alles stehen- und liegenläßt«, und einen Augenblick lang glaubte ich, sie würde böse, aber sie antwortete nur: »Dann aber wohl mit Ausnahme von Arend Herfst.«
    Wie habe ich es der Klasse immer erklärt? Der Form nach sind die Historiae des Tacitus annalistisch (ja, du Lümmel, das bedeutet in der Form von Annalen und nicht, was du denkst), aber er unterbricht seine Erzählung häufig, um die Reihenfolge der Ereignisse festhalten zu können. Das sollte ich auch mal tun, einen Sonnenhut kaufen, Ordnung schaffen in meinem Kopf, die Zeiten auseinanderhalten, hinaufgehen, aus dem verschlungenen Labyrinth der Alfama flüchten, mich oben in der Kühle einer bela sombra beim Castelo São Jorge hinsetzen, die Stadt zu meinen Füßen betrachten, einen Überblick über den Stand meines Lebens gewinnen, den Ablauf der Uhr umdrehen und die Vergangenheit auf mich zulaufen lassen wie einen gehorsamen Hund. Ich würde wie gewöhnlich wieder alles selbst tun müssen, und damit sollte ich am besten sofort beginnen. Doch erst ein Sonnenhut. Weiß, geflochtenes Schilf. Ich wuchs ein Stück damit. »He, Jungs, seht mal, Sokrates hat einen Tuntenhut auf der Brille.«
    Unter allen von den sechziger Jahren angegriffenen Köpfen war der des Direktors unseres Gymnasiums wohl am stärksten in Mitleidenschaft gezogen, wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten wir Unterricht von den Schülern bekommen. Eines der schönsten Dinge, die er sich hatte einfallen lassen, war, daß die Lehrer sich die

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