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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Unterrichtsstunden der Kollegen anhören konnten. Die paar, die es bei mir probiert hatten, hatten sich schon nach dem ersten Mal wieder verzogen, und ich selbst habe es nur zweimal getan, einmal beim fakultativen Religionsunterricht, wo ich einer von drei Schülern war und den Pfarrer vom Dienst für alle Zeiten der christlichen Nächstenliebe entfremdet habe. Das andere Mal war natürlich bei ihr, und wenn auch nur deswegen, weil sie mich im Lehrerzimmer noch nicht einmal angeschaut hatte, weil ich nachts von ihr träumte, wie ich seit meiner Pubertät nicht mehr geträumt hatte, und weil Lisa d’India mir erzählt hatte, daß sie so tollen Unterricht gebe.
    Letzteres stimmte. Ich hatte mich ganz hinten neben einen albernden Teenager gesetzt und ihn damit in Verlegenheit gebracht, doch sie tat, als bemerkte sie meine Anwesenheit nicht. Ich hatte gefragt, ob es ihr recht sei, und sie hatte gesagt, »ich kann’s nicht verbieten, und vielleicht lernst du noch was dabei, heute geht’s über den Tod«, und das war für jemanden, der so gern wissenschaftlich sein wollte, merkwürdig ungenau ausgedrückt, denn es ging nicht so sehr über den Tod, sondern über das, was danach kommt, Metamorphosen. Und wenn es auch nicht dieselben sind – damit kenne ich mich aus. Es war lange her, seit ich in einer Klasse gesessen hatte, und durch diese Umkehrung der Verhältnisse sah ich plötzlich wieder, wie merkwürdig der Beruf des Lehrers doch ist. Da sitzen zwanzig oder mehr, und nur einer steht, und das Wissen dieses einen Stehenden muß in die noch unbeschriebenen Gehirne aller anderen.
    Sie stand gut, ihr rotes Haar segelte wie eine Fahne durch die Klasse, doch lange konnte ich das nicht genießen, denn vor der Tafel wurde eine Filmleinwand entrollt, und die Vorhänge des Klassenraums, ein paar unansehnliche beige Lappen, wurden zugezogen. »Herr Mussert hat Glück«, sagte sie, »gleich beim ersten Mal Film.« Gejohle.
    »Sokrates, Pfoten weg«, hörte ich noch jemanden im Dunkeln sagen, und dann wurde es still, denn auf der Leinwand erschien eine tote Ratte. Sie war nicht groß, aber eindeutig tot, das Maul leicht geöffnet, ein wenig Blut an den Schnurrhaaren, ein wenig Glanz im halboffenen Auge. Der eingeknickte Körper lag halb zusammengesackt in jener Haltung, die unabweislich den Tod markiert, Stillstand, das Unvermögen, sich je wieder zu bewegen. Jemand machte ein Kotzgeräusch.
    »Nicht nötig.« Das war ihre Stimme, knapp, wie ein Schlag. Es war gleich wieder still. Dann erschien ein Totengräber auf der Bildfläche. Nicht, daß ich gewußt hätte, daß es einer war – sie sagte es. Ein Totengräber, ein Käfer in den Farben eines Feuersalamanders. Auch das sagte sie. Ich sah ein adliges Tier, Ebenholz und tiefes Ocker. Es sah aus, als trüge er ein Wappen auf den Flügeln. Nix er, sie.
    »Dies ist das Weibchen.«
    Das mußte stimmen, schließlich kam es von ihr. Ich versuchte es mir vorzustellen. Jemand anders auch, denn eine Stimme sagte: »Dufte Biene.« Niemand lachte.
    Der Käfer begann, eine Art Laufgraben um die tote Ratte zu graben. Jetzt kam ein zweiter Käfer hinzu, aber der tat nicht so viel.
    »Das Männchen.« Natürlich.
    Das Weibchen begann jetzt, den Kadaver anzuschubsen, er bewegte sich jedesmal ein wenig, steif, unwillig. Tote, egal welcher Spezies, wollen weiterschlafen. Es sah aus, als wollte der Käfer die Ratte krumm biegen, der dicke, gepanzerte, schwarzglänzende Kopf stieß jedesmal gegen das Aas, ein Bildhauer mit einem zu großen Stück Marmor. Ab und an sprang das Bild ein bißchen, dann waren wir wieder ein Stück weiter.
    »Ihr seht, der Film wurde zusammengeschnitten, der Ablauf dauert insgesamt etwa acht Stunden.«
    Die Kurzfassung war auch noch lang genug. Immer runder wurde der Kadaver, die Beine verknoteten sich fast, der Rattenkopf wurde in die weiche Bauchhöhle geschoben und verschwand, der Käfer tanzte seinen Totentanz um einen haarigen Ball.
    »Dies nennen wir eine Aaskugel.«
    Aaskugel, ich probierte das Wort. Noch nie gehört. Ich bin immer dankbar für ein neues Wort. Und dieses war ein schönes Wort. Eine behaarte Kugel aus Rattenfleisch, die langsam in den Laufgraben rollte.
    »Jetzt paart sie sich mit dem Männchen im Grab.«
    Jemand gab ein schmatzendes Geräusch von sich im fahlen Dunkel.
    Sie knipste das Licht an und nahm einen großen pickligen Jungen in der dritten Reihe ins Visier.
    »Tu nicht so umschattet«, sagte sie.
    Umschattet. Das Wort allein schon! In

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