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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
Autoren: Enrico Coen
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erste Gemälde aus Verrocchios Werkstatt, auf dem Leonardos Mitarbeit sicher identifiziert werden kann, ist eine Darstellung von Tobias und der Engel (Abb. 81, links). Leonardo soll an Details wie dem Hund und an Tobias’ Gestalt mitgewirkt haben. Auch die Gebrüder Pollaiuolo hatten einige Jahre zuvor dasselbe Motiv gemalt (Abb. 81, rechts). Die Ähnlichkeiten in Komposition und Einzelheiten, etwa die Haltung des linken Arms und der Hund zu Füßen des Engels, beweisen, dass Verrocchio und Leonardo stark von der Arbeit der Pollaiuolos beeinflusst waren. Mit solchen direkten Verweisen auf die Arbeit seiner Vorgänger wollte Verrocchio diesen nicht etwa Anerkennung zollen. Vielmehr nutzte er den Vergleich, um seine Überlegenheit darzustellen, weil er seinen Gegenstand plastischer darzustellen und seine Komposition inniger zu gestalten wusste. Hier versuchte ein Rivale dem anderen zu zeigen, dass er ihn übertreffen konnte.
    (81) links:  Tobias und der Engel . Andrea del Verrocchio und Leonardo da Vinci, 1470–1480. Rechts: Tobias und der Engel . Antonio und Piero Pollaiuolo, 1460.
    Wir wollen diese Geschichte nun durch die Prinzipien der Formel des Lebens betrachten. Beginnen wir mit dem Prinzip der Populationsvariabilität.
FRUCHTBARE POPULATIONEN
    Leonardo und Verrocchio konnten nur deshalb ihre Leistung erbringen, weil sie einer bestimmten sozialen Konstellation angehörten, einer Population von Individuen. Zu Leonardos Zeiten lebten in Florenz etwa 50000 Menschen. Aus dieser Population und der der Nachbarstädte gingen mehrere große Künstler der Renaissance hervor, darunter Leonardo, Michelangelo und Botticelli. 121 Es ist unwahrscheinlich, dass damals um Florenz zufällig eine besondere Kombination von Künstlergenen florierte. Vielmehr stellt die Bevölkerung von Florenz im 15. Jahrhundert wohl eine bestimmte soziale Konstellation dar, in der sich das Talent Einzelner besonders entfalten konnte. Heute leben vielleicht Tausende Menschen mit einem genetisch vergleichbaren Potenzial wie Leonardo oder Michelangelo (die heutige Weltbevölkerung ist etwa 100000 Mal größer als die von Florenz im 15. Jahrhundert). Diese seine heutigen Entsprechungen erschaffen aber keine Meisterwerke wie die Mona Lisa oder Die Erschaffung Adams ; sie sind einfach in einer ganz anderen Konstellation geboren und aufgewachsen. 122 Wie bereits dargestellt, bezieht sich jede Population auf einen bestimmten Kontext, egal, ob wir von einem Roulettespiel, einem Wald aus Apfelbäumen, einer Tasse voller Teemoleküle oder dem Gehirn eines Individuums sprechen. Für die Geschichte von Leonardo hieß der Kontext Florenz und Umgebung im 15. Jahrhundert.
    Die Bevölkerung von Florenz setzte sich nicht aus identischen Individuen zusammen. Jeder war anders, weil Geburt und Lebensumstände variierten. Leonardo, Michelangelo und Botticelli hatten jeder seine eigene genetische Konstitution, und damit begann jeder von ihnen sein Leben an einer anderen Stelle im neuronalen Raum. Die neuronale Reise, die sie unternahmen, hing von den genauen Begegnungen und Erfahrungen ab, die sie während und nach ihrer Kindheit machten. Der wechselseitige Austausch mit Verwandten, Künstlerkollegen und anderen Bürgern beeinflusste bei jedem von ihnen bestimmte Interessen und Ziele. Zu diesen Erfahrungen und Wechselwirkungen gehörten auch zufällige Ereignisse wie das, dass Leonardo genau zu dem Zeitpunkt in Verrocchios Atelier kam, als der mit der Malerei begann. Der Kunsthistoriker David Brown drückt es so aus: »Hätte Verrocchio nicht gerade damals zum Pinsel gegriffen, so wäre Leonardo vielleicht nie Maler geworden.« 123 Die Bevölkerung von Florenz war vielfältig, weil genetisch unterschiedliche Menschen hoch komplex miteinander und mit ihrem Umfeld wechselwirkten.
    Die menschliche Vielfalt eröffnet uns viele Möglichkeiten. Wären alle genetisch identisch und genau denselben Erfahrungen ausgesetzt, so wäre der Austausch zwischen Individuen sehr viel weniger interessant und fruchtbar. Doch da alle verschieden sind, können sie dauerhaft vom Wissen und Können der anderen lernen und profitieren. Dieser Austausch wirkt sich auch auf die kreative Arbeit jedes Einzelnen aus. Wie wir in Kapitel 9 gesehen haben, ist die Kreativität Teil der Prozesse, über die Menschen lernen und mit der Welt in Beziehung treten. Austausch zwischen unterschiedlichen Menschen fördert somit das beständige Aufkommen vielfältiger kreativer Handlungen in menschlichen
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