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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
Autoren: Enrico Coen
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Populationen. Außerordentliche kreative Leistungen, etwa ein bestimmtes Gemälde oder eine besondere Erkenntnis, setzen sich dann vielleicht in der Population durch und werden bekannter als andere. Das kann dazu führen, dass wir bestimmte Individuen als außergewöhnlich kreativ identifizieren. Solche Individuen wirken aber niemals in völliger Isolation. Kultureller Fortschritt kann nur entstehen, wenn Populationen aus unterschiedlichen kreativen Individuen miteinander in Wechselwirkung treten. Wie bei anderen Wandlungsprozessen, bildet das Prinzip der Populationsvariabilität auch für den kulturellen Wandel eine entscheidende Voraussetzung.
    Die Population von Florenz ist hier mein Beispiel, aber natürlich war auch diese Stadt keineswegs isoliert. Die Florentiner konnten in andere Städte reisen. Leonardo verbrachte einen Großteil seines späteren Lebens in Mailand, und Michelangelo ging nach Rom, um dort die Sixtinische Kapelle auszumalen. Auch weitere Reisen waren möglich, selbst wenn sie Monate dauern konnten. Der SeefahrerAmerigo Vespucci, der zwei Jahre nach Leonardo in Florenz geboren wurde, unternahm mehrere Forschungsreisen nach Amerika, das nach ihm benannt wurde. Anstelle isolierter Populationen lebten auf der Erde viele untereinander verbundene Populationen. 124 Die Populationsvariabilität gilt auch in noch weiter entfernten Kontexten zwischen den verschiedenen miteinander wechselwirkenden Populationen der Erde. Während in Florenz einiges vorangebracht wurde, konnten gleichzeitig in Samarkand oder Peking andere Fortschritte gemacht werden. Und dank der weltweiten Kommunikation konnten auch diese verschiedenen Populationen in Beziehung treten und einander beeinflussen. Die Ölfarben, die Leonardo verwendete, waren wenige Jahre zuvor von dem flämischen Künstler Jan van Eyck entwickelt worden, und das Papier, auf dem er schrieb, war eine Erfindung, die mehrere Jahrhunderte zurück und bis nach China führt. Die Bevölkerung von Florenz wirkte nicht isoliert; sie war Teil einer größeren menschlichen Population, die den ganzen Globus umfasste, im 15. Jahrhundert insgesamt etwa 350 Millionen Menschen. Ohne diesen weiteren Hintergrund der Variabilität wäre die Florentiner Renaissance nicht möglich gewesen.
ANHALTENDER WANDEL
    Variabilität allein aber reicht nicht aus; Varianten müssen auch fortbestehen können. Eine Form der kulturellen Persistenz besteht in persönlichem Kontakt und Überlieferung. Verrocchio konnte sein Wissen dem jungen Leonardo im Gespräch und durch persönliche Vorführung vermitteln. So konnte Verrocchio das, was er mit den Jahren gelernt hatte, an seinen Schüler weitergeben. Ähnlich inspirierte der Mathematiker Isaac Barrow seinen Schüler Isaac Newton, und der Botaniker John Henslow unterrichtete den jungen Charles Darwin. Jeder Schüler wiederum gibt dann seinerseits weiter, was er gelernt hat, und so können Wissen und Überlieferungen beständig von einer Generation an die andere tradiert werden. Das Lernen von anderen ist natürlich nicht auf formalen Unterricht beschränkt. Im Austausch und Gespräch mit der Umwelt kommt es ständig dazu.
    Kulturelle Persistenz kann auch an Kunstwerken festgemacht werden. Bei all seinem Genie hätte Leonardo nur wenig Wirkung erzielt, wenn allseine Gemälde, Zeichnungen und Schriften sich in Nichts aufgelöst hätten, sobald er sie vollendet hätte. Die materielle Stabilität der Kunstwerke liefert eine sehr wirksame Möglichkeit, langfristig an andere zu überliefern. Verrocchio und Leonardo konnten den Tobias ihrer Rivalen studieren und davon lernen, weil die Gemälde fortbestanden. Aus demselben Grund konnten Werke der Renaissance in den folgenden Jahrhunderten weiterhin Künstler inspirieren. Der englische Maler Joshua Reynolds, der eine Italienreise unternahm, um solche Werke zu besichtigen, riet werdenden Künstlern 1769: »Überlegen Sie bei sich, wie ein Michelangelo oder ein Raffael diesen Gegenstand behandelt haben würde, und machen Sie sich glauben, dass Ihr Bild, wenn es beendet ist, von ihnen gesehen und begutachtet werden soll.« 125 Genauso holte sich Paul Cézanne Inspiration bei den alten Meistern und ging daher nachmittags regelmäßig in den Louvre, um ihre Werke zu studieren und zu kopieren. Gehen wir noch weiter zurück: Wir können die Höhlenmalerei aus dem Magdalénien besichtigen, die über 10000 Jahre alt sind (Abb. 2, S. 34). Das alles ermöglicht uns nur die materielle Persistenz. Dasselbe gilt
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