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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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Populationsvariabilität und Persistenz. Ohne Variabilität würde nichts den Motor am Laufen halten, und ohne Persistenz würde er keinen Wandel bewirken. Einen weiteren Rückkopplungseffekt zwischen dem Motor und seinem Treibstoff kennen wir bereits: Die Treue der DNA-Kopien und damit der Grad der Variabilität selbst wird durch natürliche Selektion moduliert (S. 36–37).
    Obwohl diese Rückkopplungsschleifen in vielen Darstellungen der Evolution implizit enthalten sind, konnten wir sie deutlicher herausstellen, indem wir ihre zentralen Parameter zunächst voneinander getrennt dargestellt haben. Dadurch ist klar geworden, dass die natürliche Selektion durch ein Zusammenspiel von vier Prinzipien angetrieben wird – Populationsvariabilität, Persistenz, Verstärkung und Wettbewerb. In den folgenden Kapiteln werden wir sehen, dass ähnliche Prinzipien und Rückkopplungsschleifen auch anderen Typen der Wandlungsprozesse des Lebens zu Grunde liegen. Sie liefern eine gemeinsame Grundform, die in vielen verschiedenen Gestalten sichtbar wird, so wie Schach und Krieg eine gemeinsame Form aufweisen, obwohl sie sich in vielerlei Hinsicht voneinander unterscheiden. Aber zunächst möchte ich die Geschichte der Evolution fortsetzen und einige Punkte näher betrachten, die wir übergangen oder als selbstverständlich vorausgesetzt haben.
    In diesem Kapitel haben wir angenommen, dass die natürliche Selektion in einem bestimmten Kontext wirkt, nämlich einer Population von Individuen. Wir können von natürlicher Selektion in einer Apfelbaumpopulation sprechen, in der ein Apfeltyp gegenübereinem anderen begünstigt wird – oder von natürlicher Selektion in einer Bärenpopulation, bei der bestimmte Bären anderen vorgezogen werden. Wir sprechen aber nicht von natürlicher Selektion, die Apfelbäume Bären vorzieht. Auch wenn es mehr Apfelbäume gibt als Bären, heißt das nicht, dass die natürliche Selektion die einen den anderen vorzieht. Denn natürliche Selektion betrifft immer den relativen Erfolg einer Form innerhalb derselben Population und nie absolute Zahlen. Das wirft die Frage auf, warum es überhaupt Individuen gibt und warum sie in so vielen verschiedenen Populationen organisiert sind. Warum bestehen manche Populationen aus einer Menge individueller Apfelbäume und andere Populationen aus Bären? Um diese Fragen zu beantworten, werden wir drei weitere Prinzipien betrachten, die restlichen Parameter in der Formel des Lebens.

K APITEL 2
VOM GEN ZUM ÖKOSYSTEM
    Dem Kunsthändler Ambroise Vollard zufolge musste man sehr viel Zeit mitbringen, wenn man sich von Paul Cézanne porträtieren lassen wollte. Als sein eigenes Porträt fast fertig war, machte Vollard den Fehler, zwei Stellen zu kommentieren, die ihm unvollendet schienen:
    Wer ihn nicht malen gesehen hat, kann sich schwer vorstellen, wie langsam und mühselig seine Arbeit an gewissen Tagen war. Auf meinem Porträt gibt es auf der Hand zwei kleine Flecken, wo die Leinwand nicht gedeckt ist. Ich wies Cézanne darauf hin: »(…) vielleicht finde ich morgen den richtigen Ton, um diese Lücken zu füllen«, antwortete er mir. »Sie müssen verstehen, Monsieur Vollard, wenn ich da aufs Geratewohl etwas hinsetzte, müßte ich das ganze Bild von dieser Stelle aus neu beginnen!« 12
    Cézanne hat die beiden Stellen nie ausgefüllt – sie sind immer noch als weiße Flecken an der Wurzel des Mittelfingers sichtbar (Abb. 5) – Vollard blieben also weitere unzählige Sitzungen erspart. Cézanne war sich des Wechselspiels der Farben auf einer Leinwand höchst bewusst. Jeder Pinselstrich musste mit den anderen in ein genaues Verhältnis gebracht werden, denn aus dem Zusammenspiel der Farben ergibt sich die Harmonie des Gemäldes als Ganzem. Eine nicht harmonische Veränderung, etwa wenn die falsche Farbe auf die Hand gelangte, konnte zu einer Katastrophe führen.
    (5)  Porträt des Ambroise Vollard . Paul Cézanne, um 1899.
    Wie Gemälde sind auch Organismen räumliche Einheiten, in welchen einzelne Teile aufeinander einwirken, um ein gemeinsames Ganzes zu bilden. Atmen können wir dank des Zusammenspielsunseres Nervensystems, der Muskeln, des Skeletts und der Lunge. Die Funktion unserer Lunge hängt von der Struktur des Schleims ab, der ihre Membranen überzieht. Die Struktur des Schleims hängt von Proteinen ab, die negativ geladene Chlorid-Ionen transportieren. Veränderungen an nur einem Element dieses integrierten Systems können katastrophale Folgen nach sich

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