Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
gemeinsam sind.
(11) Muster, erzeugt durch Anwendung von Turings Regeln.
TURINGS PRINZIPIEN
Legen Sie einen Teebeutel in eine Tasse kaltes Wasser, so wird das Wasser allmählich braun, wenn sich der Tee löst und aus dem Beutel in der Tasse verteilt. 24 Durch Diffusion breitet sich die braune Farbe allmählich aus. Könnten wir nun näher herangehen und die einzelnen Wasser- und Teemoleküle betrachten, so sähen wir keine allmähliche Bewegung, sondern wirre, chaotische Bewegungen. Die Moleküle hüpfen beständig herum und kollidieren zufällig miteinander. Dieses Verhalten folgt dem physikalischen Gesetz, dass benachbarte Gegenstände tendenziell am stärksten aufeinander einwirken; zwei Moleküle in einer Lösung, die zu nah aneinander geraten, stoßen einander gewöhnlich ab oder prallen voneinander ab. Wir haben es mit zwei Verhaltensebenen zu tun: Im Maßstab der Teetasse sehen wir eine allmähliche Ausbreitung der braunen Farbe, im Maßstab der Moleküle dagegen Wirrnis und Chaos.
Diese beiden Verhaltensebenen lassen sich statistisch in Bezug zueinander setzen. Wie wir in Kapitel 1 festgestellt haben, geht es in der Statistik um die Begriffe Population und Variabilität. In diesem Fall ist die Population die Ansammlung von Wasser- und Teemolekülen in der Tasse. Die Variabilität ergibt sich aus den zufälligen Bewegungen und Kollisionen der einzelnen Moleküle. Obwohl jedes einzelne Molekül einem zufälligen Weg folgt, neigen sie insgesamt dazu, sich von ihrer Quelle, dem Teebeutel, wegzubewegen. Nichts hält die Moleküle in der Nähe des Teebeutels fest: Also bewegen sie sich mit der Zeit wahrscheinlich weg davon, wenn auch zwischen den Kollisionen in zufälliger Richtung. Ähnlich wird ein Betrunkener, der nach dem Verlassen des Wirtshauses viele zufällige Schritte stolpert, kaum in der Nähe des Hauses bleiben. Insgesamt führen also die zufälligen Bewegungen unserer vielen Teemoleküle zu ihrer allmählichen Verteilung in der Tasse. Wegen der enormen Anzahl der Moleküle und Kollisionen beobachten wir im Maßstab der Teetasse, wie sich die braune Farbe gleichmäßig ausbreitet. Aus demChaos der individuellen Molekularbewegungen ergibt sich eine gleichmäßige Diffusion. Wie andere statistische Phänomene ist auch die Diffusion keine Eigenschaft eines isoliert betrachteten Ereignisses (die individuellen Molekularbewegungen zwischen den Kollisionen gehen in zufällige Richtungen), sondern das kollektive Ergebnis einer Population.
Es lässt sich eine durchschnittliche Distanz benennen, über die die Teemoleküle in einem gegebenen Zeitraum diffundieren. Das heißt, die Diffusion kann als eine Art Maßband gelten, als Messlatte für die Entfernung. Anders als ein gewöhnliches Maßband ist dieses Maßband aber statistisch, es bezieht sich also auf das Populationsverhalten von Molekülen.
Außer zur Diffusion können zufällige Molekularkollisionen noch zu einem ganz anderen Ereignis führen: einer chemischen Reaktion. Dabei können sich etwa zwei Moleküle zu einem neuen Molekül verbinden, so wie zwei Menschen, die zufällig aufeinandertreffen, vielleicht ein Gespräch beginnen. Da chemische Reaktionen auf zufälligen Kollisionen beruhen, hängt die Häufigkeit, mit der sie stattfinden, von der Menge oder der Konzentration der beteiligten Moleküle ab. Diese Abhängigkeit bezeichnet man auch als Massenwirkungsgesetz. Sie ergibt sich aus der durchschnittlichen Wirkung vieler zufälliger Kollisionen innerhalb einer Molekularpopulation und ist demnach eine weitere statistische Eigenschaft. Und diese beiden Formen statistischer Regelmäßigkeit – Diffusion und chemische Reaktionsrate – bilden die Grundlage für Turings Musterbildungsmechanismus. Deswegen bezeichnet man den Vorgang, den er darstellte, auch als Reaktions-Diffusions-System.
Zu viel Variabilität kann allerdings auch problematisch werden, wenn wir ein Muster bilden wollen – unsere Teegesellschaft würde kaum Gruppen bilden können, wenn alle wie wild herumrasen würden. Neben der Bewegung unserer Molekularpopulation brauchen wir also noch ein stabilisierendes Moment. Bei Turings System müssen die Produkte der chemischen Reaktion so stabil sein, dass sie eine Zeit lang fortbestehen, und die Moleküle sollten sich nicht zu schnell auflösen oder mit anderen vermischen. Wir benötigen ausreichend Variabilität (zufällige Molekularbewegung), damit die Musterbildung beginnen kann, aber nicht so viel, dass sich alles auflöst. Neben
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