Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)
Sie die Einladung. »Ach ja, Turing. Ich glaube, das war einer von den Erfindern des Computers. Er hat auch bei der Entzifferung des Geheimcodes geholfen, den die Deutschen im Zweiten Weltkrieg verwendeten – Enigma-Code hieß der, glaube ich. Er hat in den 1950er Jahren noch ziemlich jung Selbstmord begangen, in einen mit Cyanid vergifteten Apfel hat er gebissen. Das scheint mir eine spannende Einladung zu sein. An deiner Stelle würde ich hingehen.«
Sie fahren zu einem großen, roten Ziegelgebäude im Zentrum von Manchester. Am Eingang zeigen Sie Ihre Einladung vor und werden in einen großen Raum geführt, wo man Ihnen eine Tasse Tee reicht. Sehr viele Leute streifen allein umher, aber irgendwann kommt jemand auf Sie zu.
»Hallo, ich bin Charles. Wissen Sie, worum es hier geht?«
»Tut mir Leid, ich habe keine Ahnung. Ich habe nur aus heiterem Himmel diese Einladung bekommen.«
Ein Dritter horcht auf und tritt zu Ihnen.
»Ach, Sie auch? Das ist aber wirklich seltsam. Ich bin Mathematiker und habe hier in Manchester in derselben Abteilung gearbeitet wie einst Turing, aber ich habe auch keine Ahnung, was hier heute los ist.«
Weitere Personen klinken sich in das Gespräch ein, aber Ihre Gruppe wird jetzt rasch so groß, dass Sie bei dem Geräuschpegel im Raum nicht mehr hören können, was jeder Einzelne sagt. Sie entfernen sich also allmählich von der Gruppe und stehen irgendwann wieder alleine da. Inzwischen haben sich viele Gruppen gebildet, in denen die Menschen sich angeregt unterhalten. Sie kommen sich ziemlich seltsam vor, wie Sie da so alleine herumstehen, treten irgendwann doch wieder zu einer der Gruppen und beteiligen sich an deren Gespräch. So geht die Teegesellschaft weiter – sehr viele kleine Menschentrauben unterhalten sich. Obwohl die Zusammensetzung jeder Gruppe mit der Zeit wechselt, bleibt das Cluster-Muster erhalten. Turing hätte seine Freude daran gehabt.
Sein Leben lang interessierte sich Turing für einfache mathematische Beziehungen, die der Bildung von Mustern zu Grunde liegen. 22 Sein frühes Werk zeigte, dass selbst unsere Fähigkeit zur Problemlösung eine Art Muster ist, das sich mathematisch darstellen lässt. Dieser Gedanke führte zum Begriff der Problemlösungsmaschine, besser bekannt als Computer. Während des Krieges arbeitete Turing auch an der Entschlüsselung des Musters von Symbolen in codierten Nachrichten. Gegen Ende seiner Laufbahn wandte er sich den Mustern zu, die beim Entwicklungsprozess entstehen. Unter Entwicklung verstehe ich hier den Prozess, in dem eine einzelne Zelle, die befruchtete Eizelle, sich selbst in einen komplexen vielzelligen Organismus verwandeln kann. In seiner typischen Arbeitsweise vereinfachte Turing das Problem bis zu einer entschlackten Kernvorstellung von diesen Wandlungsprozessen.
Betrachten wir auf Abbildung 11 ein Muster aus Flecken. Für dieses Muster wurden die Flecken nicht vorsichtig von Hand gezeichnet, sondern sie wurden durch die Anwendung weniger einfacher mathematischer Regeln automatisch generiert. Erstmals formulierte Alan Turing diese Regeln 1952 als mögliche Erklärung, wie Moleküle sich automatisch selbst organisieren können. 23 In dieser Darstellung bezeichnet die Intensität des Grautons die Konzentration eines Moleküls, wobei Regionen mit hoher Konzentration schwarz dargestellt werden und Stellen mit der niedrigsten Konzentration weiß. Wir erkennen, dass die Moleküle sich in bestimmten Regionen zusammenballen, dass sie verteilte Flecken von hoher Konzentration bilden, ungefähr so wie die geclusterten Gesprächsrunden bei derTeegesellschaft. Dort hatte niemand angesagt, wo sich diese Runden bilden sollten; die Gruppen entstanden spontan aus dem Zusammenspiel der Menschen. Genauso ergeben sich, ausgehend von einer anfangs gleichmäßigen Verteilung der Moleküle, durch Interaktion die Regionen höherer Molekularkonzentration in Abbildung 11. Bei der Formulierung der Interaktionsregeln stellte Turing einige wesentliche Prinzipien heraus, nach denen sich Muster aus einer anfangs einfachen Verteilung in kompliziertere Anordnungen verwandeln können. Und da diese Regeln für Moleküle galten, meinte Turing, sie könnten auch erklären, wie eine scheinbar einfache Anfangsstruktur, die befruchtete Eizelle, sich selbst schrittweise zu einem komplexerenErwachsenen entwickelt. Im Folgenden verwende ich einige Begriffe aus meiner Darstellung der Evolution, um Grundelemente zu beschreiben, die beiden Prozessen
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