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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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Populationsvariabilität benötigen wir auch Persistenz.
    Ein Schlüsselmerkmal der Teegesellschaft besteht darin, dass zu zwei Personen, die eine Unterhaltung begonnen haben, gerne weitere hinzutreten. Ein Gespräch fördert das Aufkommen von weiteren Gesprächen, verstärkt sich also selbst. Turing vermutete für sein molekulares System einen vergleichbaren Verstärkungsmechanismus. Es gibt Moleküle, die einerseits bei Reaktionen mitwirken und andererseits Reaktionen katalysieren oder fördern können. Turing untersuchte, was passiert, wenn das Produkt der Reaktion selbst ein katalysierendes Molekül ist. Anders gesagt, wir nehmen an, dass ein Katalysator eine Reaktion fördert und das Produkt dieser Reaktion auch wieder der Katalysator ist. Der Katalysator würde dann seine eigene Produktion befördern, also seine eigene Vermehrung unterstützen. Wenn die Konzentration dieses Moleküls an einer Stelle leicht erhöht ist, werden dort immer noch mehr davon produziert. Das System fördert Ungleichheiten, vergrößert Differenzen eher, als für Ausgleich zu sorgen.
    Gäbe es nur diese Verstärkung oder Selbstförderung, so würde das Gesamtsystem sich lediglich selbst zu höheren Molekularkonzentrationen aufschwingen und kein geordnetes Muster bilden. So kommen wir zu unserem nächsten Prinzip: dem Wettbewerb. Im Fall unserer Teegesellschaft setzt sich die Tendenz, dass immer mehr Menschen zusammenkommen, nicht unendlich fort. Denn wenn eine Gruppe anwächst, wird es schwieriger, über den Lärm der anderen Gespräche hinweg zu verstehen, was jeder Einzelne sagt; deshalb werden zunehmend Einzelne die Gruppe verlassen, wenn diese eine bestimmte Größe überschreitet. Jede Gruppe wird irgendwann zum Opfer ihres eigenen Erfolgs. Deshalb haben wir zum Schluss viele einzelne Gesprächsgruppen und nicht eine einzige riesige Menschenansammlung. In diesem Beispiel entsteht der selbstbegrenzende Aspekt der Gruppengröße daraus, dass die Menschen darum konkurrieren zu verstehen, was gesagt wird. Ein anderer Wettbewerbsfaktor wäre der Kampf ums Rederecht – in größeren Gruppen hat der einzelne weniger Gelegenheit, etwas zum Gespräch beizutragen, und verlässt vielleicht irgendwann die Gruppe.
    Turing postulierte auch bei der Entstehung molekularer Muster eine Form des Wettbewerbs. Eine Ursache dafür kann die natürliche Begrenzung der chemischen Reaktion sein. Bei der Produktion eines Moleküls über eine chemische Reaktion werden andere Molekülein der Lösung, solche aus dem so genannten Substrat, verbraucht. Jedes Mal, wenn ein selbstförderndes Molekül entsteht, werden also Substratmoleküle verbraucht. Der Substratvorrat ist aber nicht unbegrenzt, und wenn der Prozess voranschreitet, wird das Substrat irgendwann knapp. Das selbstfördernde Molekül wird zum Opfer seines eigenen Erfolgs – je stärker seine Menge zunimmt, desto weniger Substrat steht für seine eigene Synthese zur Verfügung. Die selbstfördernden Moleküle beginnen irgendwann, miteinander um die begrenzten übrigen Substratvorräte zu konkurrieren. Dieser Wettbewerb wird umso stärker, je mehr Substrat verbraucht ist, wodurch die Zunahme des selbstfördernden Moleküls noch weiter gebremst wird.
    Dieser Prozess lässt sich mit zwei ineinander verschränkten Rückkopplungsschleifen zusammenfassen (Abb. 12). Das selbstfördernde Molekül bildet eine Regelschleife mit positiver Rückkopplung, weil es seine eigene Produktion befördert (Verstärkung). Die Regelschleife mit negativer Rückkopplung illustriert die einschränkende Wirkung der Substratbegrenzung auf das System (Wettbewerb). Beide Schleifen wirken im Kontext der Diffusion: Sowohl die selbstfördernden als auch die Substratmoleküle springen ständig umher; damit breiten sie sich aus und unterliegen chemischen Reaktionen. Turing wies nach, dass in Abhängigkeit davon, wie schnell die selbstfördernden und die Substratmoleküle diffundieren können, diese Situation zu gleichmäßig verteilten Regionen hoher Konzentration führen kann wie in Abbildung 11. Dazu kommt es auch dann, wenn die Molekülverteilung anfangs ausgeglichen war. Wie bei den Gesprächen auf der Teegesellschaft kann Selbstförderung zu lokal sehr hoher Konzentration führen; der Wettbewerb dagegen löst hohe Konzentrationen auf und verteilt sie wieder im Raum. Turing hatte bewiesen, wie einfache Regeln zur Verwandlung eines anfangs einförmigen Anordnungsmusters in ein komplexeres Fleckenmuster führen

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