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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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biologischer Entwicklung gestoßen. Der Weg, den ein Embryo durch den Entwicklungsraum geht, ist ein sich wiederholender Kreislauf, bei dem die Embryonen jeder Generation im Großen und Ganzen immer wieder dieselben Regionen durchlaufen. Ganz anders bei der Evolution, wo die Wege, auf denen die Arten sich durch den genetischen Raum bewegen, sehr viel offener sind und auch nicht zyklisch verlaufen. Worauf beruht dieser Unterschied? Um das zu erklären, müssen wir zunächst wissen, wie die Entwicklungspfade sich überhaupt herausgebildet haben. Wir müssen von den formalen zu den historischen Verhältnissen wechseln.

K APITEL 5
GESCHICHTE IM WERDEN
    Bashford Dean hatte zwei Leidenschaften. 44 Die eine war das Studium der biologischen Entwicklung und Evolution von Fischen, die ihm 1904 im Alter von 37 Jahren den Lehrstuhl für Zoologie der Wirbeltiere an der Columbia University einbrachte. Die andere Leidenschaft war seine Faszination für Waffen und Rüstungen. Die pflegte er seit seiner frühen Kindheit, als er einmal bei einem Freund der Familie einen schönen europäischen Helm gesehen hatte. Er war so beeindruckt davon, dass er damit stundenlang auf der Veranda saß und ihn von innen und außen untersuchte. Sein Interesse für Rüstungen wuchs mit den Jahren, und 1906 wurde er Ehrenkurator für Waffen und Rüstungen im New Yorker Metropolitan Museum of Art. Schließlich konnte er sich sogar von seinen Pflichten in der Zoologie der Columbia University zurückziehen und sich ganz der Arbeit am Metropolitan Museum widmen, wo er eine der weltweit am besten ausgestatteten Sammlungen für Waffen und Rüstungen zusammenstellte.
    (37) Diagramm der Helmevolution, Bashford Dean, 1915.
    Als Bashford Dean sich von den Fischen ab- und der Waffenkunde zuwandte, nahm er aber seine biologische Vergangenheit mit. Das sieht man an einer Reihe von Zeichnungen, auf denen er die Geschichte verschiedener Rüstungsteile wie Helmen oder Schilden genauso darlegte, wie man die Evolution von Organismen illustrieren könnte (Abb. 37). Sein Helmdiagramm zeigt ganz unten als Vorfahren einen einfachen runden Helm. Ausgehend von dieser primitiven Urform verzweigen sich verschiedene Abstammungslinien, von denen manche zu dem höchst ausgeklügelten geschlossenen Helmmit Visier, andere zu weiteren Innovationen, in die Sackgasse oder zurück zu einfacheren Formen führten.
    Obwohl solche Darstellungen insofern nützlich sind, als man damit Dinge ordnen und in Zusammenhang setzen kann, sind sie in gewisser Hinsicht missverständlich. Sie vermitteln den Eindruck, ein Objekt würde in ein anderes umgewandelt, als würde ein Helm direkt umgebaut und so den nächsten in der Reihe ergeben. Doch so funktioniert die Veränderung von Helmen nicht. Verändert wird nicht der Helm selbst, sondern die Art und Weise, wie Menschen Helme bauen. Die frühesten, relativ plumpen Helme sind wahrscheinlich in ein paar Grundschritten entstanden. Mit wachsender Erfahrung und höheren Ansprüchen der Krieger wurden die Helme immer raffinierter und ausgeklügelter. Die Geschichte des Helms ist eine Geschichte der Helmherstellung.
    In der Geschichte des Helms erkennen wir zwei ineinander verwobene Prozesse. Einerseits ist da der Wandel im Helmdesign über die Jahrhunderte, also die Evolution, die Bashford Dean darstellt. Und dann ist da noch der Herstellungsprozess von Helmen, der sich in jeder Generation sehr oft wiederholt, wenn der Helmmacher wie am Fließband zahlreiche Kopien desselben Helms fertigt. Diese beiden Prozesse sind miteinander verbunden. Denn was der Helmmacher tut, hängt vom historischen Zeitpunkt ab, während die Geschichte des Helms selbst davon abhängt, wie die Helmmacher das Design mit der Zeit veränderten.
    Dieselben Überlegungen gelten für die Evolution vielzelliger Organismen. Obwohl wir die Evolution gern als sich verzweigenden Baum darstellen, in dessen Verlauf sich ein Typ Organismus direkt in einen anderen zu verwandeln scheint, verändern sich in Wirklichkeit nicht die Organismen selbst, sondern die Art und Weise, wie sie sich aus der befruchteten Eizelle entwickeln. Die frühesten Produkte der biologischen Entwicklung sind vielleicht relativ plumpe Gebilde, einfache Zellhaufen, entsprechend den frühesten Helmen. Diese einfachen vielzelligen Strukturen sind erstmals vor etwa einer Milliarde Jahren aufgetreten. Allmählich bildeten sich dann raffiniertere Entwicklungsformen heraus, die schließlich zu der Variabilität von Organismen

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