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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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führten, wie wir sie heute kennen. Für jede Art von Lebewesen wiederholt sich in jeder Generation derselbe Entwicklungsprozess, wobei wie am Fließband ständig eine Vielzahl von einander ähnelnden Organismen entsteht. Und dabei ist auch dieser repetitive Prozess selbst nicht fixiert, sondern verändert sich mit der Zeit durch Evolution. Biologische Entwicklung und Evolution sind historisch eng miteinander verbunden. Denn der Weg der biologischen Entwicklung hängt von der evolutionären Vergangenheit ab, während der Weg der Evolution davon abhängt, wie die biologische Entwicklung sich mit der Zeit verändert.
    In den vorigen Kapiteln haben wir festgestellt, dass Evolution und biologische Entwicklung auf derselben Formel beruhen. Sie weisen demnach eine formale Ähnlichkeit auf. In diesem Kapitel möchte ich ein anders geartetes Verhältnis untersuchen, nämlich den historischen Zusammenhang von Evolution und biologischer Entwicklung. Im ersten Schritt fragen wir nun, wo die Grundparameter für die Formel der biologischen Entwicklung eigentlich herkommen.
EINZELLIGE ANFÄNGE
    Biologische Entwicklung ist die Verwandlung einer Zelle in ein vielzelliges Individuum. Viele ihrer Prinzipien lassen sich aber auch an einzelligen Verwandten beobachten. 45 Nehmen wir das statistische Verhalten von Molekülen. Die Fähigkeit eines einzelligen Organismus zum Stoffwechsel oder zur Aufnahme von Molekülen aus der Umgebung ist auf ständige Bewegung angewiesen, auf das chaotische Wandern von Molekülen. Normaler, vorhersagbarer Stoffwechsel hängt von statistischen Vorgängen wie Diffusion ab, an denen Populationen von Ereignissen auf molekularer Ebene beteiligt sind. Ohne den physikalischen Vorgang der Diffusion gäbe es keine Form von Leben. Einzellige Organismen sind im Diffusionsspiel unschlagbar. Wenn zwei Hefezellen unterschiedlichen Paarungstyps sich zur geschlechtlichen Fortpflanzung einander nähern müssen, produzieren sie beide Signalmoleküle, so genannte Pheromone. Diese Moleküle werden aus der Zelle ausgeschieden und treten in die Umgebung ein, wo sie wegdiffundieren, um Zellen des benötigten Paarungstyps zu stimulieren. Da mit steigender Distanz die Konzentration diffundierender Substanzen nachlässt, können Organismen so räumliche Informationen über ihre Umgebung erhalten – in diesem Fall über die Entfernung der Pheromonquelle. Ist die Konzentration des gesuchten Pheromons hoch, so ist es wahrscheinlich, dass eine Zelle vom anderen Paarungstyp in der Nähe ist. Und die sexuelle Fortpflanzung ist nur ein Beispiel für die vielen Fälle, in denen einzellige Organismen Signalmoleküle und Diffusion zur Kommunikation nutzen. Das für die biologische Entwicklung so entscheidende Prinzip der Populationsvariabilität haben also vielzellige Organismen nicht von null auf neu erfunden, es wurde von ihren einzelligen Vorfahren schon längst genutzt.
    Dasselbe gilt für das Prinzip der Persistenz bei der biologischen Entwicklung. Zu viel Diffusion kann für ein einzelliges Lebewesen problematisch werden. Wäre die Zelle nicht von einer Membran umgeben, die die Moleküle daran hindert, auf und davon zu diffundieren, so könnte sie als Individuum nicht dauerhaft existieren. Persistenz greift auch von einer Generation zur nächsten. Bei der Teilung eines einzelligen Organismus wird die DNA kopiert und der Zellinhalt zwischen den Tochterzellen aufgeteilt. Zu diesem Inhalt gehören die Regulatorproteine, über die die Tochterzellen das Muster von Genaktivitäten und Proteinen der Eltern nachbilden können. Genauso werden Genaktivitäten von Zelle zu Zelle weitergegeben, wenn sich beim vielzelligen Organismus die befruchtete Eizelle teilt. Ein Mechanismus, der bei Einzellern über die Generationen hinweg für erbliche Persistenz sorgt, garantiert bei der biologischen Entwicklung auch zwischen Zellen desselben Organismus Kontinuität und Persistenz.
    Auch die bei der biologischen Entwicklung wirksamen Prinzipien Verstärkung, Wettbewerb, Kooperation und kombinatorischer Reichtum haben ihre Vorgänger in der Welt der Einzeller. Alle einzelligen Organismen steuern ihre Gene als Reaktion auf veränderte Umstände. Trinken wir ein Glas Milch, so verändert eine Darmbakterie, Escherichia coli, die Aktivität ihrer Gene und produziert fortan mehr von einem Protein, das zur Verdauung der Laktose nötig ist. Ein Gen, das für dieses Laktose-abbauende Protein codiert, wird angeschaltet, weil hohe Laktosemengen in der Milch die

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