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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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nicht mehr innerhalb der Zellen. Die Pflanze hat ein räumliches Merkmal ihrer Umwelt erfasst, nämlich die Unterscheidung zwischen Fels und Meer, und verkörpert es jetzt durch ihre eigene Organisation von Zelltypen. Sie hat die Welt zerlegt, indem sie sich selbst zerlegt hat.
    Diese Organisation vollzieht unsere primitive Alge, indem sie im Entwicklungsraum einem relativ einfachen Rundweg folgt. Die ursprüngliche Algenzelle beginnt mit einer bestimmten Kombination von Regulatorproteinen, die einer Stelle im Entwicklungsraum entspricht. Dieser Kontext liefert die molekularen Voraussetzungen dafür, dass die Zelle sich teilt und damit im frühen Embryo ein paar weitere Zelltypen produziert – einige, die sich besser am Felsen festklammern können, andere, die Licht sammeln; und damit rückt der Embryo an eine neue Stelle im Entwicklungsraum. Das wiederum liefert den Kontext, der den nächsten Schritt auslöst. Irgendwann können dann auch Zellen zu Keimzellen bestimmt werden, die die nächste Generation entstehen lässt. So durchläuft die Alge einen Zyklus durch den Entwicklungsraum, gelenkt von einer Reihe von molekularen und zellulären Prinzipien, die bei ihren einzelligen Vorfahren bereits alle tätig waren.
    Das Szenario illustriert, wie Parameter, die schon in der Welt der Einzeller vorhanden waren, sich im Lauf der Evolution irgendwann zusammenfanden und eine Grundformel für die biologische Entwicklung ergaben. Stand diese Formel einmal, konnten sich auch spezifischere Entwicklungsformen herausbilden. Unsere einfachen vielzelligen Algen, die dort am Felsen kleben, konkurrieren um Licht; Formen, die sich stark ausdehnen und während ihres Lebenszyklus stärker wachsen können, werden von der natürlichen Selektion gefördert. Aus dem Wachstum ergeben sich freilich neue Probleme: Die Pflanze wird stärker der Zugbelastung der Strömung ausgesetzt, und die Zellen an der Felsoberfläche müssen versorgt werden, obwohl sie immer weiter von den photosynthetisierenden Zellen entfernt sind. Weitere Spezialisierungen der Zellen können da Abhilfe schaffen, etwa eine Manschette kräftigerer Zellen, die die Pflanze davor schützt, ins Meer hinausgezogen zu werden, oder ein eigenes Transportsystem, das Zucker von der Spitze an die Basis der Pflanze bewegen kann. Zur Herausbildung solcher Spezialisierungen ist kein grundsätzlich neuer Mechanismus nötig. Sie können einfach auftreten, wenn der immer gleiche Vorgang der Musterbildung wiederholt wird, während der Organismus sich entwickelt. Durch wiederholtes Aufbauen von Muster auf Muster beim wachsenden Organismus lassen sich kontrolliert verschiedene Spezialisierungen herstellen. Im Ergebnis wurde damit unser Zyklus im Entwicklungsraum erweitert und verändert.
    Ich habe hier in einem vereinfachten Szenario vorgeführt, wie die Prinzipien der biologischen Entwicklung im Lauf der Evolution vielzelliger Pflanzen möglicherweise kombiniert wurden. Ähnlich lässt sich das für Tiere skizzieren. Es gibt viele einzellige Tiere, die erfolgreich vom Verzehr anderer Organismen leben. Größer zu sein, bietet Tieren aber einige Vorteile, nicht zuletzt die Möglichkeit, kleinere Lebewesen schlucken zu können, und die Chance, selbst nicht verschluckt zu werden. 47 Wer durch Vielzelligkeit größer wird, hat außerdem den Vorteil, dass verschiedene Zelltypen verschiedene Aufgaben übernehmen können, so dass zum Beispiel bestimmte Zellen sich dem Fressen und andere der Verdauung widmen. Und da Tiere, die in größerem Maßstab leben, mit weiteren Herausforderungen konfrontiert sind, sich etwa effizient fortbewegen oder ihre verschiedenen Körperteile koordinieren müssen, können sich nun über rekurrente Musterbildung immer weitere Zelltypen und -anordnungen ergeben, die es mit diesen Anforderungen aufnehmen können.
    Eine Zunahme an Größe und Komplexität hat natürlich ihren Preis. Einerseits verzögert sie die Reproduktion, weil der Organismus länger braucht, um zur adulten Form heranzuwachsen. Daher muss der Nutzen der Größe mit dem Preis der steigenden Generationsdauer gegengerechnet werden. Solche Kosten-Nutzen-Rechnungen finden in der lebenden Welt ständig statt, weil eine Verbesserung in einer Hinsicht häufig auf Kosten einer Verschlechterung an anderer Stelle geht. Deshalb haben vielzellige Organismen Einzeller auch nicht völlig verdrängt, im Gegenteil: Einzeller sind noch immer weitaus zahlreicher als ihre vielzelligen Verwandten. Für Stephen Jay Gould

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