Die Fotografin
spüren, wie sehr es sie verachtete. Es zog sich zurück, kam immer später nach Haus. Niemand, glaubte es, würde es vermissen, wenn…
Das Kind war dumm. Es begriff nichts. Erst ein paar Jahre später, als es wieder einmal Schränke, Truhen und Zimmer ausräumen mußte, erst da überkam es eine leise Ahnung. Und mit dieser Ahnung stellte sich ein altvertrautes Gefühl ein, die quälende Gewißheit, daß es etwas versäumt hatte. Und daß es nun zu spät war, für immer.
Das Kind war kein Kind mehr, als eines Abends zwei Männer vor der Tür standen, verlegen sahen sie aus, der eine hatte Schweißperlen auf der Stirn. Weil es kein Kind mehr war, verstand es sofort, was gemeint war, als einer der beiden sagte: »Fräulein Senger, Sie müssen jetzt ruhig bleiben.« So etwas wird oft gesagt. Nachbarn und Verwandte versuchten es später mit »Trink erstmal was« und »Du setzt dich am besten«. Oder mit »Wein dich ruhig aus«. Aber da waren keine Tränen mehr.
Das Kind, das längst keines mehr war, räumte das Elternhaus aus wie damals den Kleiderschrank seines Vaters. Die Kleider und Schuhe und Handtaschen, die Anzüge, Schlipse und Sakkos. Es fand Vaters Liebesbriefe an seine Frau. Telegramme und liebevolle kleine Notizen von Edwin Schwarz. Daneben eine Schachtel mit den Gedichten, die das Kind für den Vater geschrieben hatte. Fotos von einem kleinen Mädchen mit dunklen Locken, das siegesgewiß lächelte. Ein Taufkleid. Ein Hochzeitskleid. Mutter hatte alles aufgehoben.
Sie hatte ihre Tochter nicht verdient, dieses verwöhnte Balg, das ihr ein zweites Glück nicht gönnte. Und Edwin Schwarz hatte das alles erst recht nicht verdient – der Mann, dessen einziger Fehler darin bestanden hatte, schon nach 56 Flugstunden einen Sichtflug bei schlechtem Wetter zu wagen.
Die Tochter brauchte sieben quälende Tage, bis die Kleider aussortiert waren, die man dem Deutschen Roten Kreuz geben konnte, bis sie das Geschirr verpackt und die Möbel verkauft hatte und der Antiquar gekommen war, um den Wert von Edwins Bibliothek zu schätzen. Sie wollte nichts behalten, keine Fotos, keine Briefe, auch nicht das Haus. Ihre Erinnerungen brauchten keine Vorlage. Sie kamen auch so, sie kamen ungebeten und viel zu oft und immer taten sie weh.
Felis hatte sich mittlerweile eingefunden und stakste über Kisten und Kartons, schnüffelte in finsteren Ecken und kam, Spinnweben in den Barthaaren, immer mal vorbei, um Alexa mit der Nase anzustupsen. Dann lief sie mit gerecktem Schweif dem nächsten Geruch hinterher.
Alexa räumte wieder alles in den Rucksack, nur den Fotoapparat ließ sie draußen. Fast zaghaft öffnete sie das Lederfutteral. Die Kamera sah eigenartig aus, ganz anders als moderne Fotoapparate; sie war ungewöhnlich klein und leicht und erinnerte an die mechanischen Wunderwerke vergangener Jahrhunderte. Noch nie hatte sie so etwas in der Hand gehabt. Auf der Oberseite des Geräts, links vom Sucher und dem, was wie der Auslöser aussah, stand »Leica«, daneben eine Nummer, darunter »Ernst Leitz, Wetzlar, D.R.P.«. Alexa hatte nie gern fotografiert. Man drückte auf den Knopf, es surrte, auf den Fotos hernach hatten alle rote Augen oder das Bild war nur dort scharf, wo es niemanden interessierte. Sie war Idiotenkameras gewöhnt, aber selbst mit denen konnte sie nicht umgehen.
Sie drehte die Kamera hin und her und dann sah sie durch den Sucher. Der Raum war zu dunkel, sie erkannte nur den hellen Fleck, von dem sie annahm, daß es das Fenster sei. Sie ließ das Gerät sinken und starrte in den Raum. Schließlich schloß sie das Futteral und legte die Kamera behutsam wieder in den Rucksack. Nachdem sie alle Kisten und Kartons in der rechten hinteren Ecke des Raums gestapelt hatte, holte sie den Staubsauger.
Die verschmutzten Fenster ließen die Strahlen der schon tief stehenden Sonne nur gedämpft in den Raum dringen. Staubmoleküle tanzten in der Luft. Als sie die Katze rief, die ganz oben auf den Kistenstapel gesprungen war, hörte sie, daß der Raum ein Echo hatte.
»Ada«, sagte sie laut, aus keinem bestimmten Grund. »Ada« murmelte es vielstimmig zurück. Plötzlich kam ihr der Raum wie eine Gruft vor. Sie lockte Felis und schloß die Tür hinter sich ab. Den Rucksack mit der Kamera nahm sie mit.
Sie stellte ihn neben sich, während sie auf der Terrasse Tee trank und ein paar von den Tomaten aß, die sie gestern auf dem Markt gekauft hatte. Als die Sonne unterging, fühlte sie sich zum ersten Mal seit Wochen nicht
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