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Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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dorthin zu locken, aber Felis schüttelte sich nach jedem Blick in den Abgrund und flüchtete zurück aufs Dach, wo sie aufgeregt hin und her lief.
    Alexa zwang sich, die Ohren vor den schreckerfüllten Lauten zu verschließen und holte die Leiter aus dem Keller. Mit Mühe gelang es ihr, sie halb getragen, halb gezogen auf die Terrasse zu bugsieren und anzulegen.
    Felis’ Schreie waren leiser geworden, sie schien neugierig zuzugucken, wie Alexa sich abmühte. Verflixtes Vieh, dachte Alexa. Sie stieg ungern auf Leitern. Leitern, davon war sie fest überzeugt, rutschten ab oder kippten um. Man verfehlte eine Sprosse oder kriegte einen Schwindelanfall, wenn man oben war. Und was würde Felis tun? Ihr aus lauter Angst das Gesicht zerkratzen. Sie hatte die fünfte Sprosse erreicht und sah hinunter. Der Ausblick war atemberaubend: Er umfaßte nicht mehr nur die Terrasse, sondern auch das, was jenseits lag – ein Abgrund, der sich hinter der die Terrasse umgrenzenden Mauer auftat.
    Fast hätte sie das Gleichgewicht verloren. Als sie wieder hochgucken konnte, sah sie in Felis’ grüne Augen. Du hast wohl einen gutaussehenden Feuerwehrmann erwartet, du kleines Miststück, dachte Alexa und kletterte die letzten Sprossen ohne Pause hoch.
    Die Katzenkrallen klickten auf dem Blech der Dachrinne, während Felis von einer Pfote auf die andere trat. »Na komm«, sagte Alexa und streckte den Arm nach dem Tier aus. Felis wich zurück. Biest, hinterhältiges! Das Biest sah aus großen Augen auf sie herab und tänzelte wieder näher. Und – drehte im entscheidenden Moment ab. So, wie normalerweise sie es machte, wenn sie mit der Katze Fangen spielte. Alexa verlegte sich aufs Schmeicheln und Locken, Felis schien sich für das Spiel zu erwärmen. Offenbar war Alexa Gegenstand eines psychologischen Experiments ihres Haustiers geworden.
    Und so hätte das wahrscheinlich noch stundenlang weitergehen können, wenn sie nicht die Geduld verloren und zugegriffen hätte. Ein kurzer Protestschrei, ein bißchen Gezappel und sie hatte die Katze am Nackenfell. Sie setzte sich Felis auf die Schulter, auf der das Tier schnurrend balancierte und so tat, als wäre nichts gewesen.
    Noch bevor sie unten angelangt waren, sprang die Katze ab und lief einem Schmetterling hinterher. Alexa fiel atemlos auf den nächsten Stuhl.
    Dann ging sie, getragen vom Sieg über die eigenen Ängste, ins Haus und zu der Kammer mit all dem Gerümpel. Einmal mußte es ja sein.
    »Einmal muß es ja sein«, hatte Mutter gesagt und das Kind unschlüssig angesehen. »Hilf Frau Kutschera«, sagte sie dann mit der müden Stimme, mit der sie seit Vaters Tod sprach, und ging in den Garten.
    Frau Kutschera war im Schlafzimmer und räumte Vaters Kleiderschrank aus, in dem noch immer seine Sachen hingen. Das Kind wußte nicht, ob es stolz sein sollte auf dieses neue Vertrauen. Irgend etwas stimmte nicht, wenn man plötzlich Dinge tun durfte, die sonst streng verboten waren – Schränke ausräumen, zum Beispiel. Es hatte immer einen Riesenärger gegeben, wenn sie früher an den Geschirrschrank gegangen war. Oder an den Kleiderschrank der Mutter. An den Schuhschrank. Die Wäschetruhe. Und auf einmal war alles anders.
    »Einmal muß es ja sein«, hatte Mutter gesagt und ausgesehen, als ob sie kein Wort davon glaubte.
    Vaters Anzüge rochen nach Pfeifentabak und dem vertrauten Rasierwasser. Das Kind fühlte sich überwältigt von einer so tiefen Sehnsucht nach seiner Stimme, seinen großen warmen Händen, seinen liebevollen Augen, daß es beinahe doch noch geweint hätte. Das war der Duft, in den es sich hineingekuschelt hatte, wenn er nach Hause kam und es auf den Arm nahm.
    Frau Kutschera sagte kein Wort, als sie Hose über Hose legte und Jackett über Jackett. Das Kind sah ihr zu. Nur als sie die schwarze Uniform aus dem Schrank holte, hätte es die Jacke mit den goldenen Litzen am liebsten an sich gerissen in einem plötzlichen Anfall von Eifersucht.
    Auf dem Bett lag der Pappkarton. Den hatte der Briefträger gebracht. »Mach du auf«, hatte die Mutter gesagt und müde die Hand sinken lassen. Das Kind riß das Packpapier auf und hob den Deckel vom Karton. Obenauf lag Vaters Brieftasche. Es nahm das braune Lederding in die Hand und klappte es andächtig auf. Die Erleichterung durchströmte es wie ein kühler Windhauch: es war noch da, das Bild, das er immer mit sich herumgetragen hatte – das Bild, auf dem das Kind ihn anlächelt. Ohne die Mutter. Das Foto von Mutter steckte

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