Die Fotografin
Gurt des Rucksacks fester und lief los.
8
Frankfurt
S eit dem Brief wurde Dorothea v. Plato die andere nicht mehr los, dieses Alter ego, von dem sie geglaubt hatte, es gehöre der Vergangenheit an. Die andere hatte sich fest in ihr eingenistet und kommentierte ihr jetziges Leben wie ein altkluges Kind. Oder, was der Wirklichkeit näherkam, wie ein Provinzmädel. »Das hättest du früher nicht gekonnt, ohne in Schweiß auszubrechen!« rief die innere Stimme voller Bewunderung, als sie die morgendliche Konferenz mit einem Minimum an Dissonanzen beendete. Oder: »Wie machst du das, ohne rot zu werden?« Sie war dem eitlen Kollegen, dessen Unterstützung sie brauchte, schamlos um den Bart gegangen. Am Ende des langen Tages mit Konferenzen, Telefongesprächen, Besuchsterminen und dem völlig unnötigen abendlichen Empfang für einen verdienten Philosophieprofessor hatte sie diese Kommentare gründlich satt. Einmal hätte sie fast die Haltung verloren, als die innere Stimme sie mitten im Gespräch mit dem Professor daran erinnerte, daß sie vor dreißig Jahren noch geglaubt hatte, der Mann sei unfehlbar wie der Papst.
Als der Chauffeur sie vor der Haustür absetzte, war ihr vor Müdigkeit schwindelig. Sie schloß die Haustür auf, warf den Mantel über den Garderobenständer, schlüpfte aus den Schuhen und goß sich in der Küche ein Glas Wein ein, bevor sie sich im Salon aufs Sofa fallen ließ. Ihre Füße fühlten sich an, als hätte man ihr die Bastonade verabreicht. Was war sie nur für ein Schaf gewesen, damals, vor dreißig Jahren. Alles, was andere taten, fand sie bewundernswert. Und fast allen hatte sie mehr zugetraut als sich selbst. Nur einmal bewies sie wirklich Mut – als sie beschloß, nach dem letzten Ausbildungsjahr bei der Bank in Waltersheim das Abitur nachzumachen und zu studieren. Dorothea seufzte tief auf. Was wäre aus ihr geworden, wenn sie geblieben wäre?
»Du glaubst wohl, du bist was Besseres!« Als sie ihr von ihren Plänen erzählte, war Kollegin Martina, die in der Zweigstelle in Halfstadt gerade eine »Position« angeboten bekommen hatte, mit einem Mal nicht mehr freundlich und verständnisvoll gewesen.
»Von mir kriegst du keinen Pfennig!« Vater hatte noch verbissener als üblich auf den Fernsehbildschirm gestarrt.
Mutter immerhin hatte den Anstand gehabt, nicht auszusprechen, was sie wahrscheinlich dachte: Jünger wirst du nicht, Dorle. Und schöner auch nicht. Und der Jürgen – der erbt mal das Haus. Und wenn die Kinder etwas größer sind, kannst du ihm die Buchführung machen…
Dorle. Wie hatte sie das gehaßt, wenn Mutter sie so nannte – auch noch vor anderen Leuten.
Dorothea v. Plato zog die Beine an und kuschelte sich tief in die weichen Kissen. Der Sturm war richtig losgebrochen, als sie allen Mut zusammengenommen und »Ich ziehe aus!« gestottert hatte.
»Aber du hast doch hier alles, was du brauchst!« Mutter stand die Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Unter »brauchen« verstand sie ein warmes Zimmer und etwas zu essen – alles, was darüber hinausging, war Luxus.
»Und komm ja nicht an und jammere, wenn was schiefgeht.« Vater würdigte sie keines Blikkes, auch nicht ein paar Tage später, als sie schon im Türrahmen stand, einen Koffer in der linken und die Reisetasche in der rechten Hand. Nicht vor dir, hatte sie gedacht. Du wirst mich niemals jammern hören.
»Ausgerechnet Frankfurt!« Mutter hatte sie nach draußen begleitet. »Da ist doch niemand seines Lebens sicher!«
Dorothea ließ den Wein im Glas kreisen und hielt es prüfend an die Nase. Die beiden Alten hatten sich nie ein anderes Leben vorstellen können. Aber sie wäre erstickt, wenn sie länger in Grünau geblieben wäre, in dem Haus mit den niedrigen Decken und dem klebrigen Linoleum auf dem Küchenboden.
Die erste Zeit in der Großstadt, in der ersten Großstadt ihres Lebens, zog wie ein nicht mehr ganz farbechter Film vor ihrem inneren Auge vorbei. Sie war wochenlang wie betäubt durch die Stadt gelaufen. Vom Norden, dort, wo die Villen der Reichen standen, durch die Innenstadt über den Fluß bis in den Stadtwald im Süden. Vom Schwimmbad ganz im Westen über die Uni und die Bockenheimer Landstraße mit ihren heruntergekommenen Gründerzeitvillen an der Ruine der Alten Oper vorbei bis zur Berger Straße und dann weiter nach Seckbach und zum Huthpark. Immer wieder. Eines Tages war ihr auf dem Rückweg ein Trupp alter Weiblein entgegengekommen, die lachend zur Ebbelweikneipe auf der
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