Die Fotografin
anderen Straßenseite hinüberwinkten. »Hier spielt die Musik!« rief eine der fünf ihr zu, bevor sie schwungvoll durchs Tor bogen. Sie hatte sich nach kurzem Nachdenken ebenfalls an einen der langen Tische unter den blühenden Kastanienbäumen der »Sonne« gesetzt und den sauren Stoff probiert, den man hier ausschenkte. Wider Erwarten schmeckte es ihr. Sie war wie verzaubert gewesen. Von dem alten Fachwerkhaus mitten in Frankfurt, vom Kopfsteinpflaster unter ihren Füßen, vom Licht, das durch die Zweige in den Hof fiel, von den Menschen. Und von den Möglichkeiten, die sich plötzlich eröffneten: man konnte auch einfach nur leben.
Sie atmete den Duft des Weines tief ein und nahm den ersten Schluck. Ein Aloxe Corton, ein roter Burgunder, ein guter Winzer, ein großer Jahrgang. Dorothea v. Plato seufzte und nahm noch einen Schluck. Ebbelwei vertrug ihr Magen schon lange nicht mehr. Sie stellte das Rotweinglas auf das Marmortischchen neben dem Sessel und schaute zum Schreibtisch hinüber, auf dem der Brief lag.
Wenn er nicht so laut geschrien hätte, wäre er ihr gar nicht aufgefallen, damals, an der Uni, im Hörsaal VI, während einer Vollversammlung. Und ohne Helen wäre sie nie dort hingegangen. Helen Wessels, ihre engste Freundin damals, an die sie seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Helen war die Verkörperung dessen gewesen, was sie bewunderte: zierlich, mädchenhaft und mit dem untrüglichen Gespür für das, was gerade angesagt war in der Szene – zum Beispiel, ob man die Jeans in oder über den Schaftstiefeln trug.
Aber ohne die Besetzung von Dr. Bonns Hauptseminar ein paar Stunden zuvor wäre auch Helen abends nicht auf die Vollversammlung gegangen, sondern in den Kolbkeller, zum Tanzen. »Ist der nicht süß?« Helen hatte mit dem Kinn auf einen jungen Mann im langen Ledermantel gezeigt, der mit einer Gruppe anderer ins Rechtsphilosophische Seminar gekommen war und sich nun drohend vor Dr. Bonn aufgebaut hatte. »Schluß mit dem bürgerlichen Scheiß!« verkündete einer der Besetzer. Als ob man Dr. Bonn noch drohen mußte. Er hatte es längst aufgegeben, sich über den Lernfortschritt in seinem Seminar im einzelnen und im allgemeinen den Kopf zu zerbrechen.
»Bonbon« nannte Helen den Privatdozenten, der so ziemlich das Gegenteil davon war. Nie, hatte sich Dorothee damals geschworen, nie wollte sie so werden wie er, so resigniert, so lebensfern, so hilflos.
»Was meinst du? Kommst du nachher mit?« Dorothee hatte die Gruppe von Studenten gemustert. Sie sahen aus, als ob sie von ihrer Sache überzeugt waren, von welcher auch immer.
»Zur Vollversammlung? Ich muß eigentlich noch…«
Im Unterschied zu Helen studierte sie.
»Streberin!« Helen hatte spöttisch gegrinst.
»Kennst du sonst nichts im Leben?«
Dorothea griff nach dem Glas und nahm einen tiefen Schluck. Helen, dachte sie, hatte immer gewußt, wo es weh tat.
Natürlich war sie mitgegangen. Es ging um irgend etwas schrecklich Wichtiges, um Nieder mit, Kampf dem oder Weg mit. Helen war das Thema sowieso egal. Für sie waren die regelmäßigen Zusammenrottungen ein einziger gigantischer Beziehungsbasar. Und was ist schon geeigneter für Kontaktaufnahme als ein brechend voller Saal, als fünfhundert Personen auf einem Haufen, mit Tuchfühlung, wie beim Engtanzen, und mit einer Bühne, auf der jeder, der mutig genug war, sich produzieren durfte?
Während Helen nach rechts winkte und nach links irgend etwas schrie, hatte Dorothee versucht, sich möglichst klein zu machen. Sie hatte die Jahre der Studentenbewegung nur aus der Ferne mitgekriegt und nie verstanden, worum es in den Grüppchen und Sekten eigentlich ging, in die sie in den 70er Jahren zerfallen war. Sie war Menschenmassen nicht gewohnt – das einzig Beruhigende daran war, daß sie in der Masse wenigstens nicht weiter auffiel. Es roch nach ungewaschenen Haaren und Parfüm, nach Bier und Männerschweiß und Zigarettenrauch. Irgendeiner brüllte in ein Megaphon, unter wütenden Protestrufen im Publikum. Sie hatte keine Erinnerung daran, wer sich an diesem Abend wichtig machte, in diesem zähen Jargon, den niemand wirklich verstand. Dem Mann ein paar Schritte vor ihr schien das alles ähnlich auf die Nerven zu gehen.
Was hatte er bloß geschrien, hochrot im Gesicht? Egal, jedenfalls drehten sich alle zu ihm um. Und einer neben ihr sagte: »Der weiß wenigstens, was Sache ist.«
Dorothee hatte sich ein paar Schritte vorgedrängt, näher heran an den jungen Mann mit dem
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