Die Fotografin
Vollbart und den dunklen, lockigen Haaren, die ihm ins Gesicht fielen. Er schüttelte die Fäuste und schrie wieder etwas. Dann drehte er sich um, noch immer rot im Gesicht, und drängelte sich durch die protestierenden Zuhörer in Richtung Ausgang.
Woher nur hatte sie damals den Mut genommen, ihm hinterherzugehen? Dorothea spürte wieder die alte, verräterische Hitze im Gesicht. Sie hatte damals ein beigefarbenes Kostüm getragen, weil sie morgens in der Anwaltskanzlei ausgeholfen hatte, war ungeschminkt und hatte die Brille abgesetzt, damit sie nicht gar zu blaustrümpfig wirkte. Das hatte zur Folge, daß sie halb blind hinter ihm herstolperte. Er lief die Treppen hinunter, fast zu schnell für sie, und machte erst vor der Eingangstür zum Universitätsgebäude halt. Als er ihre Absätze auf dem Fußboden klicken hörte, drehte er sich um.
Dorothea sah sie vor sich, die andere Frau, die sie damals gewesen war. Sie hielt die alte, braune Aktentasche vor der Brust, als ob sie sich damit schützen könnte, hatte die Augen weit aufgerissen, um besser zu sehen, und war außer Atem. Er trug erbsensuppenfarbene Kordhosen, die an den Knien verbeult und abgewetzt waren, einen eingelaufenen Norwegerpullover, der sich über dem Bauch hochschob, schwarze Halbstiefel und ein Jackett mit Lederflicken an den Ellbogen. Er musterte sie, von oben bis unten, und wollte sich dann wegdrehen.
Was sie gestottert hatte damals vor dem Eingang zum Hochschulgebäude im Dämmerlicht eines milden Herbsttages, wußte sie nicht mehr. Wenigstens das ersparte ihr die Erinnerung.
»Ich brauch jetzt ein Bier«, hatte er geantwortet und aus irgendeinem Grund nahm sie das als Einladung.
Sie schwiegen, bis sie vor der Kneipe angekommen waren. Das Stimmengewirr setzte für einen Moment aus, als sie Schulter an Schulter bei »Dr. Flotte« einliefen.
»Die machen mir gleich den Prozeß wegen Klassenverrat«, hatte er geflüstert.
Sie verstand nicht, was er damit meinte. Heute wußte sie es. Sie kannte sich mittlerweile bestens aus mit Klassenverrat.
Damals hatte sie sich ihm noch nahe gefühlt, sah in ihm einen Menschen, der sich so wie sie verzweifelt bemühte, die Welt zu verstehen. Später hatte sie alles darangesetzt, die Spuren zu verwischen, die in das graue Einfamilienhaus in der Sudetensiedlung von Grünau führten. Oder in die Bank in Waltersheim. Oder ins Seminar von Dr. Bonn. Sie hatte promoviert und einen gutbezahlten Job in der Wirtschaft angenommen. Sie heiratete Arnold v. Plato ebenso wohlüberlegt, wie sie sich wieder von ihm scheiden ließ. Sie war stets vorwärtsgetrabt, wie ein Kutschergaul, die Scheuklappen fest angelegt. Sie hatte einen Karriereschritt nach dem anderen getan, von der Wirtschaft in die Politik und wieder zurück, ohne sich auch nur einmal zu fragen: was bringt das alles, was kostet es mich. Warum auch? Sie mußte weder auf Mann noch auf Kinder Rücksicht nehmen. Niemand hatte Ansprüche an sie. Sie war verfügbar, war Manövriermasse gewesen, auf höchstem Niveau, natürlich.
Irgendwann galt sie als die erfolgreichste Fondsmanagerin Deutschlands. Zumindest war sie, dank einer monatlichen Fernsehsendung, die bekannteste. Wieder ging ihr Blick zu dem Brief. Sollte er ausgerechnet jetzt, wo alles erreicht war und sie nicht mehr viel verlangte vom Leben, in die Lage geraten sein, ihr zu schaden?
Plötzlich fiel ihr wieder ein, was er damals, auf der Vollversammlung unter lauter Studenten, gerufen hatte: »Ich hab nicht bei Adorno studiert, sondern bei Werner Menke in Mainheim Klempner, und ich verstehe euren Scheiß hier nicht.«
Im Grunde könnte sie ihn noch heute küssen für diesen Satz.
9
Beaulieu
S eit Stunden stand das Dorf unter Beschallung. Aus den Lautsprechern auf Fenstersimsen und an Telefonmasten erklang immer wieder das gleiche: erst Musik, ein Stück, das wie die moderne Version eines alten Tanzliedes klang, und dann eine samtene Männerstimme, die die einzelnen Stationen der großen Fête votive ankündigte, deren Vorbereitung das Festkomitee von Beaulieu schon seit Monaten in Atem hielt. Länger und wahrscheinlich wichtiger war die darauf folgende Aufzählung der Namen all jener, die das Fest mit einer Spende unterstützt hatten: der Bäcker Ronsard, das Maison de la Presse von Monsieur Durand, das Relais des Roses von Catherine Joly, der Friseurladen »Elle Et Lui«, der Metzger Renoir, der kleine Supermarkt, der Klempner, der Apotheker, der Arzt und einige, deren Namen ihr nichts sagten.
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