Die Fotografin
daß er ein bißchen zu erleichtert war angesichts dessen, daß es doch angeblich nur um eine »Kleinigkeit« ging. Dennoch hatte sie es auf sich genommen, mit dem Koffer, den er ihr eines Nachts in die Wohnung schleppte, in den Zug zu steigen und nach Belgien zu fahren, um das schwere Gepäckstück in Namur in ein Schließfach zu stellen und den Schlüssel in einem Briefumschlag bei der Post zu hinterlegen – auf den Namen eines gewissen Dr. Sigismund.
Eine Woche später versuchte jemand im nicht gerade weit entfernten Mons, US-General Alexander Haig in die Luft zu sprengen. Ein Koffer aus Namur kam in den Berichten über den Anschlag zwar nicht vor. Aber nachdem Martin kurze Zeit später untergetaucht war, begann die Angelegenheit sie bis in ihre Träume zu verfolgen. Es mußte einen Zusammenhang geben – denn sogar, daß der Anschlag nicht gelungen war, würde zu Martin passen.
Schließlich begann sie Schlaftabletten zu nehmen. Schlechte Träume von Martin Schmid paßten nicht in ihr neues Leben.
Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie ins Gesicht der Staatsanwältin. Karen Stark wirkte jetzt nicht mehr milde interessiert, sondern neugierig.
»Wieso kann der Mann Ihnen dadurch schaden, daß er vor unvordenklicher Zeit einmal Ihr Liebhaber war?«
Danke für das Kompliment, dachte Dorothea und zupfte unwillkürlich an ihrer Frisur. »Das liegt doch auf der Hand: Martin Schmid stellt sich, es kommt zu einem Verfahren, in dessen Verlauf Zeugen befragt werden, die ganze Vergangenheit wird erneut durchgekaut und – denken Sie doch einfach mal an den deutschen Außenminister mit der militanten Vergangenheit! Wochenlang hätte man darüber berichtet, was Dorothea v. Plato mit Kriminellen und Terroristen getrieben hat, als sie noch Dorothee Köppen hieß.«
»Hmmm.« Die andere nickte mit dem Kopf.
»Also…« Dorothea lachte. »Ein besseres Motiv als Alexa Senger habe ich allemal.«
»Sofern man Pauls These vom anhaltenden Rachegefühl der Kinder der Opfer nicht vorzieht«, murmelte Karen Stark. Dann lehnte sie sich zurück und sah Dorothea mit gerunzelter Stirn an.
»Und außerdem hat Ihre Argumentation einen Schönheitsfehler: Wenn Sie ihn wirklich umgebracht haben und mir das auch noch alles erzählen, bekommen Sie unter Garantie die Schlagzeilen, die Sie eigentlich vermeiden wollten.«
Gut beobachtet, dachte Dorothea, holte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an, ohne die andere auch nur fragend anzusehen. Sie nahm den ersten Zug wie eine Süchtige. »Es ist ja auch nur eine Hypothese.«
»Natürlich.« Karen Stark nickte. Ihr Lächeln sah belustigt aus.
»Ich meine nur: Ich hätte ein weit besseres Motiv gehabt als ein junges Mädchen, das Martin Schmid noch nicht einmal persönlich kannte. Sie wird ja wohl kaum angenommen haben, daß Martin am Tod ihres Vaters schuld war.«
»Weiß man’s?« Karen Stark hörte sich spöttisch an.
»Ich bitte Sie! Warum soll ein junges Mädchen, das finanziell keine Sorgen hat, sich um alles bringen, was das Leben lebenswert macht – nur aus verspäteter und verfehlter Rache?« Ja, warum? Das genau war die Frage. Martin hatte »Alexa« geflüstert, bevor er starb. Und das konnte nur eines heißen.
»Rache ist immer verfehlt«, sagte Karen Stark.
»Aber es gibt offenbar Menschen, die einen Verlust nicht verwinden können.«
Dorothea merkte, wie ihr bei diesen Worten die Tränen in die Augen stiegen. Jetzt nicht weinen, dachte sie. Bitte nicht. Das wird ja langsam zur Angewohnheit. Sie hatte nichts zu verwinden. Was hatte sie denn schon verloren, verflixt? Sie grub in ihrer Handtasche nach einem Tempo.
Liebe? Gefühle? fragte die innere Stimme.
Sie fand kein Taschentuch und wischte sich mit der Hand die Tränen aus dem Gesicht.
Leichtigkeit? Freude? Vielleicht hast du dich selbst verloren?
Der Tränenstrom schwemmte lange vergessene Wünsche und Sehnsüchte an den Tag. Den Wunsch nach Weichheit und Wärme und Ruhe, nach Frieden und nach Stille. Die Sehnsucht nach einem Menschen.
Darf es sonst noch was sein, dachte sie und ließ sich von Karen Stark eine Serviette reichen. Sie schneuzte sich und tupfte die Nässe von den Augen. Hoffentlich verlief die Wimperntusche nicht.
»Frau v. Plato.«
In Karen Starks Augen sah sie Mitleid. Auch das noch.
»Vielleicht war es ja tatsächlich Selbstmord.« Dorothea schluckte den nächsten Tränenschwall hinunter und schüttelte den Kopf.
»Ich halte das ja auch für unwahrscheinlich. Aber…«
Dorothea
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