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Die Fotografin

Die Fotografin

Titel: Die Fotografin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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kämpfte gegen die Tränen an, die herausdrängten, als ob sie auf diese Gelegenheit schon seit Jahren warteten.
    »Wäre es nicht auch denkbar, daß – nun ja…« Die Staatsanwältin nahm eine Serviette vom Nebentisch und reichte sie herüber.
    Sie wischte sich die Nase und ließ die Serviette unter den Tisch fallen.
    Karen Starks Stimme senkte sich. »Er wollte zurückkommen, sagten Sie.«
    Dorothea nickte.
    »Wäre es nicht vorstellbar, daß es auch andere gibt, denen das ganz und gar nicht recht wäre?«
    Wer sollte das sein? Sie schüttelte begriffsstutzig den Kopf.
    In diesem Moment kam Karen Starks Begleiter zurück. Was sie in seinem Gesicht las, ließ Dorothea das letzte Restchen Zuversicht verlieren. Der Mann sah zufrieden aus, nein: er sah selbstzufrieden aus. Wie einer, der sich bestätigt fühlt.
    Wie einer, der recht gehabt hatte. Arme Alexa, dachte sie. Und: Schade.

5. BILD

1
    Beaulieu
    A lexa ließ sich zurücksinken auf das Lager aus leeren Weinkartons, die sie gegenüber der Kellertür zusammengetragen hatte, legte die Hände hinter den Kopf und starrte in die Dunkelheit. Sobald sich die Augen daran gewöhnt hatten, war der Keller nicht mehr finster, sondern ein Reich der Halbschatten. Da war keine bedrohliche Schwärze, sondern samtige Dämmerung, die auch Alltagsgegenstände verzauberte. Die leere Gasflasche, die schon längst hätte umgetauscht werden müssen, neben dem Haufen Steine rechts von der Tür, große, behauene Quader, erinnerte an einen Leuchtturm auf einer Felseninsel. Und das, was an der Längsseite des Kellers hockte wie ein Gnom, war ein alter Stuhl, auf dem ein Weinfäßchen stand. Sie hatte kein Gefühl dafür, wie lange sie schon hier unten war. Wann würde man nach ihr suchen? Nach wie vielen Tagen würden Catherine oder Crespin beginnen, sich ernsthaft Sorgen zu machen? Sie schloß die Augen. Seltsamerweise beschäftigte sie die Frage nicht wirklich. Sie hatte keine Angst, schon längst nicht mehr. Nur in den ersten Schrecksekunden hatte sie so etwas wie Panik empfunden. Doch dann war eine große Ruhe über sie gekommen.
    Das Haus umschloß sie wie eine schützende Hülle. Irgendwann hatte sie geglaubt, es atmen zu hören, zu spüren, wie sich der Raum um sie herum zusammenzog und wieder ausdehnte.
    Und dann begann sie, Bilder zu sehen, die wie ein Film an ihr vorbeizogen. Erst sah sie das Tier, einen großen, schmutzigweißen Schafskopf mit melancholischen Augen und hängenden Ohren. Dann sah sie den kleinen Jungen. Und dann das Lamm, das er in den Armen hielt. Der Junge trug eine kreisrunde Mütze mit schmaler Krempe, die er weit nach hinten geschoben hatte. Ein anderer, nur wenig älterer Junge stolperte fast unter dem Gewicht des Heuballens, den er auf eine Heugabel gespießt hatte und heranschleppte. Er schob den Ballen vor das Schaf, das die Nase in das Heu steckte und zu malmen begann.
    Das nächste Bild zeigte eine Katze, deren Schweif unruhig aufs Stroh klopfte. Sie lag auf der Seite, den weißen Bauch nach oben gewölbt. Sie säugte drei kleine Katzen, zwei Männerhände streichelten sie. Die beiden Knaben waren erwachsen geworden. Sie trugen Soldatenuniform.
    Und nach einer Weile sah sie eine weinende Frau. Auch als sie aufwachte, fühlte sie sich nicht verloren und verlassen. Der Verstand teilte ihr mit, daß sie, abgesehen von Asseln, Flöhen, Spinnen und Mäusen, das einzige Lebewesen in dem feuchten Keller war. Aber sie empfand tiefen Frieden – als ob ihr Körper beruhigende Signale an sie aussandte: Du bist nicht allein.
    Nein, sie war nicht allein. Alle hatten sich versammelt, die ihr nah waren: Sie war neun Jahre alt und fiel juchzend ihrem Vater um den Hals, der braungebrannt vor der Wohnungstür stand, zurück von einem Überseeflug. Sie spielte mit Jonny unten am Fluß. Cousine Maria kam zu Besuch, zusammen mit ihrem Bruder, einem gräßlichen kleinen Angeber. Schließlich sah sie ihre Mutter vor sich, Hand in Hand mit Edwin Schwarz.
    Und dann Ben. Sie sah sein Gesicht, im Profil, das Kinn angespannt, das rechte Auge zugekniffen. Jeder der sechs trocken peitschenden Schüsse war ein Treffer. Die Frau warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu, lud das Gewehr nach und reichte es ihm wieder. Sie verließen die Schießbude mit einem dicken Strauß bunter Plastikrosen.
    Ben, dachte sie und spürte, wie die Unruhe wieder in ihr aufstieg. Ohne Ben wäre sie vor das Auto gelaufen, damals vor einem Jahr, an einem leuchtenden Sonnentag im Oktober. Sie hörte das

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