Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
Fleischwolf, durch den sie die Araber aus Algier drehten. Sie malten Zahlen auf die Häuser, legten für jeden Mann eine Karteikarte an, die sie an eine Wand hefteten; sie rekonstruierten die Verästelung des in der Kasbah verborgenen Baums. Sie verarbeiteten die Informationen. Was anschließend von dem Menschen blieb, ein blutbefleckter, zerknitterter Karton, ließen sie verschwinden, denn so etwas lässt man nicht herumliegen.
Paul Teitgen war Generalsekretär der Polizei in der Präfektur des französischen Departements Algier. Er war der zivile Beigeordnete des Generals der Fallschirmjäger. Er war sein stummer Schatten, man verlangte von ihm nur, dass er zustimmte. Oder nicht einmal seine Zustimmung: man verlangte gar nichts von ihm. Aber er verlangte etwas.
Und Paul Teitgen erwirkte – und dafür verdient er ein Denkmal –, dass die Fallschirmjäger gemeinsam mit ihm für jeden Mann, den sie festnahmen, ein Formular unterschrieben. Wie viele Kugelschreiber er wohl leergeschrieben hat! Er unterschrieb alle Formulare, die ihm die Fallschirmjäger vorlegten, ein dickes Bündel jeden Tag, er unterschrieb sie alle, und jedes bedeutete eine Festnahme, ein Verhör, eine Auslieferung an die Armee für diese Fragen, die immer die gleichen waren und immer unter solcher Gewaltanwendung gestellt wurden, dass nicht alle überlebten.
Er unterschrieb sie, behielt eine Kopie, und auf jeder stand ein Name. Ein Oberst kam zu ihm, um Rechenschaft abzulegen. Wenn er die Anzahl der Freigelassenen, der Inhaftierten und der Entkommenen genannt hatte, machte ihn Paul Teitgen auf die Differenz zwischen jenen Zahlen und denen der Namensliste aufmerksam, die er gleichzeitig konsultierte. »Und was ist mit denen?«, fragte er und nannte dabei eine Zahl oder Namen; und der Oberst, dem das nicht passte, erwiderte jeden Tag achselzuckend: »Ach die, die sind verschwunden, das ist alles.« Und damit beendete er das Gespräch.
Paul Teitgen zählte heimlich die Toten.
Am Ende wusste er, wie viele es waren. Von denen, die mit Gewalt zu Hause oder auf der Straße festgenommen und in einen Jeep gezerrt worden waren, der mit knirschenden Reifen anfuhr und an der nächsten Ecke einbog, oder in einen LKW mit Plane, von dem man nicht wusste, wohin er fuhr – in Wirklichkeit wusste man es nur zu gut –, von all denen, zwanzigtausend an der Zahl, von den hundertfünfzigtausend Arabern in Algier, von den siebzigtausend Bewohnern der Kasbah verschwanden 3024. Man behauptete, sie seien zu den anderen in die Berge geflüchtet. Manche von ihnen wurden als Leichen am Strand angeschwemmt, aufgedunsen, vom Salz angefressen und mit Verletzungen, die man auf Fische, Krebse oder Garnelen zurückführen konnte.
Für jeden einzelnen besaß Paul Teitgen einen von seiner Hand unterzeichneten Aktenbogen. Was ändert das schon, könnte man einwenden, was ändert das schon für die Verschwundenen, was ändert schon die Tatsache, dass es einen Wisch mit ihrem Namen gibt, da sie nicht mit dem Leben davongekommen sind, was ändert schon dieses Blatt Papier, auf dem man unter ihrem Namen die Unterschrift des zivilen Beigeordneten des Generals der Fallschirmjäger lesen kann, was ändert das schon für sie, da es auf ihr irdisches Schicksal keinerlei Einfluss gehabt hat? Das Kaddisch macht das Schicksal der Toten ebenfalls nicht ungeschehen: es bringt sie nicht zurück. Aber dieses Gebet ist so stark, dass es die, die es sprechen, besser macht, und den Toten in seinem Hinscheiden begleiten lässt. Die Wunde, die er bei den Lebenden hinterlässt, verheilt leichter, schmerzt nicht so sehr und nicht so lange.
Paul Teitgen zählte die Toten, er signierte kurze administrative Gebete, damit das Blutbad nicht ungesehen blieb und man anschließend wusste, wie viele Tote es gefordert hatte und wie sie hießen.
Dafür sei ihm Dank gesagt! Ohnmächtig, entsetzt überlebte er diese Zeit des allgemeinen Terrors, indem er die Toten zählte und ihre Namen festhielt. In dieser Zeit, in der man in einer kurz auflodernden Feuergarbe sein Leben lassen konnte, einer Zeit, in der die Gesichtszüge über das Schicksal eines Menschen entscheiden konnten, einer Zeit, in der die Fahrt in einem Jeep mit dem Tod enden konnte, einer Zeit, in der Lastwagen die noch lebenden Körper von Gefolterten beförderten, um sie in den Tod zu schicken, einer Zeit, in der man in der Nähe von Zéralda jene, die noch röchelten, mit dem Messer erledigte, einer Zeit, in der man Menschen ins Meer warf, als
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