Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)
dem überfüllten Bistro ungerührt über den einzigen freien Tisch im Schankraum, während sich die anderen Gäste um die Theke drängten, aber niemand versuchte ihn zu stören, das war so üblich, und er las weiter die unbedeutenden Nachrichten aus den umliegenden Ortschaften, ohne je den Kopf zu heben.
Eines Tages erfuhr ich im Vertrauen etwas, das das vielleicht ein wenig erklären konnte. Mein Thekennachbar beugte sich zu mir herüber, zeigte mit dem Finger auf Salagnon und sagte laut genug, damit alle es hören konnten: »Siehst du den Typen da mit der Zeitung, die den ganzen Tisch einnimmt? Das ist ein Veteran aus dem Indochinakrieg. Was der dort gemacht hat, das hältst du nicht aus!«
Und dabei zwinkerte er mir vielsagend zu, um anzudeuten, dass er eine ganze Menge über den Mann wisse. Dann richtete er sich wieder auf und kippte einen Schluck Weißwein hinunter.
Indochina! Das war ein Wort, das man überhaupt nicht mehr hörte, außer als Schimpfwort, mit dem man ehemalige Soldaten brandmarken konnte, das Land als solches gab es nicht mehr; der Name war im Museum gelandet, hinter Glas, es war fast anstößig, ihn auszusprechen. In meinem Wortschatz als Kind der Linken wurde dieses seltene Wort, wenn es mal genannt wurde, immer mit einem Unterton des Entsetzens oder der Verachtung ausgesprochen, wie alles, was sich auf die Kolonialzeit bezog. Man musste sich schon in einer alten Kneipe befinden, die bald dicht machen würde, unter Männern, die sich fragten, wer den Wettlauf gewinnen würde: ihr Krebs oder ihre Leberzirrhose. Man musste sich schon ganz am Rande der Welt in einer Kaschemme unter solchen abgewrackten Typen befinden, um dieses Wort noch einmal im Originalton zu hören.
Diese vertrauliche Bemerkung hatte etwas Theatralisches, daher musste ich im gleichen Ton darauf antworten. »Ach«, sagte ich, »Indochina! War das nicht ein bisschen so wie in Vietnam, oder? Nur eben auf die französische Tour, fast ohne Mittel und nach der Devise: Selbst ist der Mann! Und da wir keine Hubschrauber hatten, sprangen die Typen eben aus dem Flugzeug ab, und wenn sich der Fallschirm öffnete, gingen sie unten zu Fuß weiter.«
Der Mann hatte gehört, was ich gesagt hatte. Er hob den Kopf und rang sich ein Lächeln ab. Er blickte mich mit seinen kühlen blauen Augen an, deren Ausdruck ich nicht einzuschätzen vermochte, aber vielleicht blickte er mich ganz einfach nur an. »Das ist gar nicht so verkehrt; vor allem, was die dürftigen Mittel betraf«, sagte er und wandte sich wieder seiner Zeitung zu, deren große Seiten er nacheinander bis zur letzten umblätterte. Das allgemeine Interesse an ihm erlosch und richtete sich auf etwas anderes, denn an der Theke wechseln die Gesprächsthemen schnell. Das ist das Interessante am Aperitif mit Weißwein: der schnelle Wechsel, der Mangel an Ernst, die fehlende Trägheit, die allgemeine Hinnahme von physischen Eigenschaften, die nicht der realen Welt angehören, jener Welt, die auf uns lastet und uns in ihren Klauen hält. Durch die gelben Kelche der auf der Theke aufgereihten Gläser mit weißem Mâcon sahen wir eine uns nähere Welt, die unserem begrenzten Horizont besser entsprach. Sobald es Zeit wurde, ging ich fort und kehrte mit meinem leeren Shopper in mein möbliertes Zimmer zurück, um nach dem ausgiebigen Weißweingenuss des Vormittags meinen Rausch auszuschlafen. Dieser Job drohte verhängnisvolle Folgen für meine Leber zu haben, und bevor ich einschlief, nahm ich mir jedes Mal vor, mir bald etwas anderes zu suchen, aber ich schlief immer ein, ehe ich eine Idee hatte, was.
Der Blick dieses Mannes verfolgte mich. Er hatte die Farbe eines Gletschers und drückte weder Gefühl noch Tiefe aus. Aber es ging etwas Ruhiges von ihm aus, eine durchlässige Aufmerksamkeit, die seine ganze Umgebung auf sich zukommen ließ. Wenn man von diesem Mann beobachtet wurde, konnte man sich ihm nah fühlen, ohne dass irgendetwas zwischen ihm und einem selbst ein Hindernis bildete, das verhüten könnte, dass man gesehen wurde, oder das die Art verändern könnte, wie man gesehen wurde. Getäuscht von der seltsamen Farbe seiner Iris und ihrer Leere, die auf schwarzem Wasser treibendem Eis glich, machte ich mir vielleicht Illusionen, aber dieser Blick, der kurz auf mir geruht hatte, übte eine nachhaltige Wirkung auf mich aus, und in der darauf folgenden Woche träumte ich von Indochina, und der am frühen Morgen unterbrochene Traum verfolgte mich den ganzen Tag. Ich hatte nie
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