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Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition)

Titel: Die französische Kunst des Krieges: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexis Jenni
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seien sie Unrat, in dieser Zeit also, tat er das Einzige, was in seiner Macht stand, denn die Umkehr hatte er schon am Tag seiner Ankunft verworfen. In diesem Orkan aus Feuer, messerscharfen Splittern, Schlägen, Ertränkungen im Keller und Stromfoltern vollzog er die einzige menschenwürdige Handlung: Er zählte die Toten, einen nach dem anderen, und bewahrte ihre Namen. Er deckte ihr Fehlen auf und zog den Oberst, der ihm Bericht erstattete, zur Rechenschaft. Und dieser erwiderte ihm verwirrt und gereizt, sie seien verschwunden. »Na gut, sie sind also verschwunden«, wiederholte Teitgen und notierte ihre Anzahl und ihre Namen.
    Man klammert sich an Kleinigkeiten, aber in der Todesmaschinerie der Schlacht von Algier retteten jene, die die Ansicht vertraten, dass Menschen Menschen sind und Anrecht auf eine Zahl und einen Namen haben, die Seele derer, die das begriffen, und auch die Seele jener, um die sie sich sorgten. Nachdem die leidenden, verstümmelten Körper verschwunden waren, blieb ihre Seele zurück und wurde nicht zu einem Gespenst.
    Heute verstehe ich den Sinn dieser Handlung, aber als ich das Unternehmen Desert Storm im Fernsehen verfolgte, wusste ich das noch nicht. Ich weiß es jetzt, weil ich es im Kino gelernt habe; und auch weil ich Victorien Salagnon kennengelernt habe. Von ihm, der mein Lehrmeister wurde, erfuhr ich, dass Tote, die gezählt und namentlich genannt werden, nicht verloren sind.
    Victorien Salagnon klärte mich auf, die Begegnung mit ihm an einem Tiefpunkt meines Lebens klärte mich auf. Er zeigte mir das Zeichen, das die Geschichte geprägt hat, ein wenig bekanntes und dennoch sichtbares mathematisches Zeichen, das stets da ist, und zwar handelt es sich dabei um folgendes Größenverhältnis, folgende Proportion: zehn zu eins. Dieses Verhältnis ist das heimliche Zeichen der kolonialen Metzelei.
    Ich kehrte nach Lyon zurück und mietete mir eine bescheidene Unterkunft. Ich richtete das möblierte Zimmer mit dem Inhalt meiner dürftigen Kartons ein. Ich lebte allein, und das störte mich nicht. Ich nahm mir nicht vor, jemanden kennenzulernen, wie man es oft tut, wenn man allein lebt: Ich suchte keine Seelenverwandtschaft. Daran liegt mir nichts, meine Seele braucht keine Schwester und auch keine Brüder, sie wird immer ein Einzelkind bleiben, und aus dieser Einsamkeit kann kein Band sie herausholen. Außerdem mochte ich gern Junggesellinnen in meinem Alter, die allein in einer kleinen Wohnung lebten und die, wenn ich kam, Kerzen anzündeten, sich aufs Sofa setzten und die Arme um die angezogenen Knie schlangen. Sie warteten darauf, dass ich sie aus dieser Stellung befreite, warteten darauf, dass ich ihre Arme löste, damit die Arme etwas anderes umschlingen konnten als ihre Beine, aber mit einer von ihnen zu leben, hätte die zittrige Magie der Flamme zerstört, die alleinlebende Frauen erhellt, und die Magie der um die Knie geschlungenen Arme, die sich schließlich für mich öffneten; wenn ihre Arme erst einmal geöffnet waren, zog ich es vor, nicht zu bleiben.
    Zum Glück fehlte es mir an nichts. Das zweifelhafte Personalmanagement meiner ehemaligen Firma verbunden mit der ausgezeichneten Sozialhilfe meines Landes – was immer man darüber sagt und was immer aus ihr geworden ist – eröffnete mir die Perspektive von einem Jahr der Ruhe. Ich verfügte über ein Jahr. Zeit genug, um eine Menge Dinge zu tun. Ich tat nicht viel. Ich zögerte.
    Als meine Einkünfte knapper wurden, trug ich Gratiszeitungen aus. Ich ging am frühen Morgen mit einer Wollmütze auf dem Kopf aus dem Haus, um die Anzeigenblätter in Briefkästen zu stecken. Ich trug gestrickte fingerlose Handschuhe, die ziemlich schäbig waren, sich aber sehr gut dafür eigneten, auf Knöpfe zu drücken und Papier zu fassen. Ich zog einen schweren Einkaufstrolley mit den Zeitungen hinter mir her, denn Papier ist sehr schwer, und ich musste mich dazu zwingen, jeweils nur ein Exemplar in die Briefkästen zu stecken. Schon auf den ersten hundert Metern war die Versuchung groß, alles auf einmal wegzuwerfen, anstatt zu verteilen. Ich hatte große Lust, die Mülltonnen damit zu füllen, unbenutzte Briefkästen vollzustopfen oder versehentlich zwei, fünf oder zehn Exemplare statt einem in jeden Kasten zu werfen; aber dann würde es Beschwerden geben, denn ein Kontrolleur überwachte mich, und ich würde diese Arbeit verlieren, die mir einen Cent pro ausgetragene Zeitung oder vierzig Cent pro Kilo einbrachte und meine Vormittage

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